Über die Liebe, über Wunder

Am nächsten Abend saßen meine Zuhörer schon erwartungsfroh um das Feuer. Die junge Frau setzte sich zu mir. Ich hatte inzwischen erfahren, dass sie eine wundervolle Singstimme hätte. Ich fragte sie deshalb, ob sie für uns singen würde. „Nach deiner Geschichte, Alter, singe ich für euch ein Lied versprochen!“

„Der Dorfsprecher hatte für ein Feuer sowie Brot, Käse und etwas Wein gesorgt“, begann ich und wurde sogleich durch Friedo unterbrochen.

„Das haben wir hier auch! Hier Alter, nimm den Becher Roten gegen die trockene Kehle“, lachte er mich an.
„Pssst, Friedo, sei doch still! Ich will wissen, wie es weitergeht“, fuhr ihn die Schöne ungeduldig an. Ich nahm den dargebotenen Becher und stellte ihn neben mich.

„Friedhelm war inzwischen im 14. Jahr und besuchte seine Mutter nur noch selten. Er half seinem Bruder Gregor so gut er konnte und wo dieser ihn ließ. Gregor neckte ihn häufig wegen seiner zarten Knochen: „Hättest eine Maid werden sollen, Brüderchen, der Herrgott hat sich wohl an einer bestimmten Stelle geirrt.“  Gutmütig stimmte Friedhelm in das fröhliche Lachen seines Bruders ein. Er wusste, dass der Bruder ihn liebte und er, Friedhelm, bewunderte die Stärke, den Mut und das innere Feuer Gregors.
Felicia hatte den Kummer tief in ihrem Inneren verschlossen. Dort fraß er an ihr, wie ein wildes Tier es nicht schlimmer hätte tun können. Im zweiten Sommer ihrer Trauer beobachtete Friedhelm, wie seine Mutter mit den Händen abtastend in ihren Leib drückte. Er bemerkte, dass sie dicklich war, gerade so, als wäre neues Leben in ihr.
„Mama, fühlt ihr euch nicht wohl?“
„Es ist nichts, Friedhelm. Ich habe wohl zu viel Gärendes gegessen, bin aufgeblasen wie ein Blasebalg“,  lächelte sie ihn zärtlich an. „Komm, setz dich ein bisschen zu mir.“
„Später, Mama, später. Ich muss noch zu den Pferden. Später komme ich gerne.“
Er vergaß sein Versprechen, es gab ja auch so viel zu tun. Erst als er sich zum Schlafen niederlegte, fiel es ihm ein. Mit dem Gedanken „Morgen gehe ich aber zu ihr“, schlief er ein. Und mit jedem Abend, den er diesen Gedanken als letzten mit sich nahm, wuchs sein Schuldgefühl.
„Bruder, komm mit zu Mama“, bat er Gregor. „Ich mag nicht alleine gehen, ich habe Angst, dass mich ihre Augen wieder anbetteln. Nie reicht die Zeit, die ich bei ihr bin. Ihr Mund sagt „Lauf, mein Kind“, ihre wehmütigen Augen aber betteln „Schade, dass du schon gehst.“ Komm doch mit Gregor, bitte!“
Gemeinsam gingen die Brüder in den Garten zur Laube, in der sie die Mutter vermuteten. Sie lächelte im Schlaf, die Hände auf ihren Leib gelegt. Gregor wurde wachsbleich, als er das frische Blut auf dem Kleid der Mutter sah.
„Friedhelm, schnell, schick nach dem Medikus! Nein, warte, ich gehe selbst! Bleibe du bei der Mutter!“
Und er stürzte davon, das Herz schlug wild, der Mund war trocken, ein unbekanntes Gefühl würgte seinen Hals, als er seine Machtlosigkeit spürte. „Angst! Ist dies Angst?“ Er hatte keine Zeit, sich diese Frage zu beantworten. Er schwang sich auf das erste Pferd und galoppierte davon, um den Medikus zu holen“.
„Nein, Dorfsprecher, nicht den Medikus, den hat er erst später geholt. Er holte die Hebamme, weil er dachte, seine Mutter sei in guter Hoffnung“, unterbrach einer der Dorfbewohner den Erzähler.
„Wie die Kinder“, dachte ich bei mir. „Wie die Kinder achten sie darauf, dass alles richtig erzählt wird. Deshalb erzähle ich auch niemals eine Geschichte zweimal. Ich hörte weiter zu, lernte, dass die Mutter nicht in guter Hoffnung war, wie der Medikus dann doch kam, sie zur Ader ließ und dann jegliche Hoffnung auf Genesung zunichte machte, wie der Pfaffe gerufen wurde und ihr die letzte Ölung gab. Ich hörte, wie Friedhelm es nicht glauben wollte und zur Kräuterhexe in den Wald eilte, immer noch auf ein Wunderheilmittel hoffend. Meine Aufmerksamkeit hatte etwas nachgelassen, ich war schläfrig vom Wein.
„Junger Herr, deine Mutter wird sterben, aber nicht heute Nacht. Gib ihr diese Kräuter gegen die Schmerzen—und verlängere ihr Leben, indem du ihr täglich ein kleines Löffelchen deiner Liebe fütterst. Lege deine Hände auf ihre Hände, so dass die Handflächen sich berühren. Öffne dein Herz und lass deine Liebe über deine Hände in sie hineinfließen. Denke daran, wenig erst. Wenn es ihr besser geht, kannst du einen größeren Löffel nehmen. Und wenn es ihr dann besser geht, kannst du die Kraft deines liebenden Herzen in ihren Körper fließen lassen. Das wird das Tier in ihr sättigen, so dass es aufhört, sich vom Fleische deiner Mutter zu ernähren und zu wachsen.“
„Kann ich damit das Tier töten?“
„Nein, denn das Tier ist aus der selben Essenz. Du kannst es deshalb nicht töten. Aber es wird sich erinnern, wie es war, als es noch nicht gefräßig war. Es wird sich dann schlafen legen und deine Mutter kann genesen.“
„Was, wenn es wieder wach wird? Was weckt das Tier?“
„Das Tier erwacht, wenn Gefühle vergraben werden. Es ernährt sich zuerst vom Vergrabenen, dann wird es gefräßig und breitet sich aus. Es erwacht auch durch die Angst vor dem Tier. Wenn die Angst mächtiger ist als die Kraft der Liebe, dann gibt es keine Rettung für dieses Leben.“
„Du redest in Rätseln, Kräuterhexe!“
„Du musst es auch nicht verstehen, junger Herr. Mach, was ich dir aufgetragen habe. Und nun geht, die Zeit eilt.“
Meine Trägheit und Schläfrigkeit waren bei diesen Worten verschwunden. Auf meiner Wanderschaft hatte ich häufig gesehen, wie durch bloßes Hand auflegen Menschen und Tiere geheilt wurden. Ich wollte schon immer wissen, wie so etwas geschehen kann. Der Dorfsprecher hatte wieder meine volle Aufmerksamkeit.
„Friedhelm tat, was die Kräuterhexe gesagt hatte und seine Mutter genas. Das Wunder der Heilung verbreitete sich wie ein Feuer über das Land. Teufelswerk und Gottes Gnade, Hexerei und Magie, Auserwählter Gottes und Satansbrut, das Land spaltete sich in Gläubige, Zweifler und Ankläger, jeder hatte eine andere Erklärung für dieses Wunder. Bald kamen Kranke zu Friedhelm, erst wenige, dann so viele, dass sie in der Scheune übernachten mussten. Friedhelm tat für sie, was er für die Mutter getan hatte, und die Menschen genasen.
Mit jeder Kunde einer Heilung stieg auch die Anzahl der Zweifler. Je mehr Geheilte Friedhelm zu einem Heiligen machten, desto größer wurde der Zorn der Pfaffen. Aber darüber, Wanderer, erzähle ich euch morgen abend. Wir sind alle müde und der Hahn verschläft nicht“, beendete der Dorfsprecher an jenem Abend seine Geschichte.

Auch ich möchte mich jetzt ausruhen. Wolf träumt schon. Seine Hinterpfoten zucken, als erinnere er sich an seine letzte Mäusejagd,“ wollte ich für diesen Abend schließen. „Ahhh, Wolf, schön, dass es dich gibt! Schlaf schön, Freund“, dachte ich gerade, als die Sängerin das Wort ergriff.

„Ich singe gleich für euchvorher möchte ich noch etwas sagen“, wandte sie sich an mich.
„Ja, Geschichtenerzähler, du musst doch erlebt haben, wie Liebe die Wirklichkeit verändert. Und wenn es nur im Geiste war. Nur wer sie erlebt hat, kann so darüber erzählen. Also musst du sie doch erlebt haben? Liebe IST. Und wo Liebe ist, verblasst alles andere. Vor allem die Angst. Du erzählst meine Geschichte, denn mein Umgang mit der Angst, meine Wahrnehmung von Angst hat sich verändert. Aber was ist, wenn die Liebe dieselbe bleibt? Heute Nacht singe ich nur für die Liebe!“

Ich nahm meinen Becher Wein, den ich während des Erzählens ganz vergessen hatte, lehnte mich zurück an die Ulme und ergab mich mit all meinen Sinnen ihrem Gesang. Nun verstand ich, weshalb man sie „die kleine Nachtigall“ nannte. Sie sang von der Liebe. In meinem Herzen entstand ein Bild der Verbundenheit mit allem-was-ist. Bei geschlossenen Augen offenbarte sich mir ein Lichtermeer. Die Farben bewegten und veränderten sich mit den Tönen, die sich ineinander reihten zu einer Strophe, zu einem Lied, zu einem Bild, das ich nicht zu beschreiben vermag. „Die Liebe bleibt immer dieselbe. Die Liebe ist das, was uns erschaffen hat“, klang das Bild. Und wieder einmal verstand ich, weshalb alles richtig ist, wie es ist.

Über Angst und Mut