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Über Angst und Mut
„Kräuterhexe“, erzählte ich am nächsten Abend Friedhelms Geschichte weiter „du hast mich
auf diesen Weg geschickt. Kannst du mir auch sagen, was ich jetzt tun soll?“
Sie schaute Friedhelm lange an. Ein weiches Lächeln zog sich bis in ihre Augen.
„Du hast also Angst, junger Herr.“
„Nein! Ja—nicht wirklich Angst—manchmal ist es, als würde ein Stich durch mich hindurchgehen, ich bin
wie gelähmt. Es ist anders als die Angst, die ich früher empfand. Anders als die Angst bei meinem ersten Ausritt, und
anders als die, die ich bei dem Siechtum von Mama empfand.“
„Was ist an dieser Angst anders?“
„Dass ich nicht weiß, woher dieses plötzliche Gefühl kommt, nicht weiß, was mir diesen Stich
versetzt. Ich habe nichts Böses getan. Ich heile die Menschen, so wie du es mich gelehrt hast. Ich öffne mein Herz in
Liebe und gebe Liebe. Was ist daran falsch? Weshalb verfolgen mich die Pfaffen?“
Die Kräuterhexe fragte weiter.
„Beschreibe mir die Angst, wie du sie früher fühltest und das, was du dann getan hast.“
„Dann sitzen wir noch bis heute Abend, Kräuterhexe. Ich bin kein mutiger Mann. Ich bin nicht wie Gregor, bin kein
Held. Man hat mich oft als Memme gehänselt, weil ich selbst vor einer Maus einen Schrecken bekam.“
„Wir haben alle Zeit der Welt, junger Herr.“
„Du vielleicht, Kräuterhexe, ich nicht. Es braut sich etwas zusammen. Selbst Gregor schaut mich seltsam
an.“
„Wenn du Hilfe willst, dann rede mit mir, junger Herr. Wenn du dir die Zeit nicht nehmen willst, geh deines Weges. Ich
kann dir keine andere Welt herbeizaubern. Es ist deine Welt. Ich kann aber eine Zeitlang in deine Welt mitkommen, kann sie mit
meinen Augen sehen, kann dir das zeigen, was ich wahrnehme. Aber dafür braucht es, dass du mich in deine Welt mitnimmst.
Also, rede oder geh!“
„Meine Welt, deine Welt, was soll das Gerede, Kräuterhexe! Wir leben in der selben Welt.“
Die Kräuterhexe erhob sich von der Bank und ging in Richtung Haus. Sie blieb stehen, zögerte, drehte sich um.
„Das ist richtig. Wir leben in der selben Welt zur selben Zeit am selben Ort. Dennoch nehme ich die Welt anders wahr als
du. Ich habe keine Angst vor den Pfaffen, obwohl ihr mich KräuterHEXE nennt. Die Pfaffen lassen mich in Ruhe,
obwohl ich nicht weniger heile als du. Was meinst du, weshalb?“
„Deshalb bin ich doch hier! Genau das will ich doch von dir erfahren und nicht das Gerede über meine
Angst.“
„Junger Herr, du willst eine Rezeptur gegen die Angst. Lass dir gesagt sein, die gibt es nicht. Es gibt jedoch eine
Rezeptur, wie du mit deiner Angst umgehst. Dazu jedoch wollte ich verstehen, was Angst mit dir macht, wie sich Angst für
dich anfühlt und wie du früher Angst überwunden hast. Denn:
Angst erschafft Mut.
Du hast heute keine Angst mehr vor Mäusen, weil du dir die Mäuse angeschaut hast. Hast sie betrachtet, in ihre blitze
blanken Augen geschaut, gesehen, wie ihr Schnurrbart zittert. Und hast gelächelt über deine eigene Angst vor den
Mäusen.
Du hast Gregor als mutigen Mann bezeichnet, weil er nichts und niemanden fürchtet. Gregor ist nicht mutig. Er ist
tollkühn, da er das Gefühl der Angst nicht kennt. Erst die eigene Überwindung der Angst macht dich zu einem
mutigen Menschen. Wenn du trotz Angst eine Sache angehst, dann bist du mutig, auch wenn du selbst meinst, feige zu sein ob
deiner Ängste.
Angst ist dein Freund.
Sie dient als dein Schutzengel, der sagt „Halte ein. Willst du das wirklich?“
Wenn du, wie bei der Maus, noch einmal das betrachtest, wovor du dich fürchtest, dann kannst du die Entscheidung treffen,
ob du dich weiterhin fürchten willst oder ob das, wovor du dich fürchtest, keine Gefahr ist.
Siehst du es weiterhin als Gefahr, wird dir die Angst als dein Freund das „Halte ein!“ so lange geben, bis du ihr
sagst „Jetzt ist es vorbei.“ Aber das kennst und kannst du schon. Es gibt einen einfachen Grund, weshalb du nicht
weißt, was dir den Stich versetzt und deine Beine lähmt. Es ist eine unbestimmte Angst, die in deiner eigenen
Empfindsamkeit geboren wird. Du versuchst, dieser unbestimmten Angst einen Namen zu geben, damit du sie anschauen kannst. Der
Name, den du ihr gerade gibst, ist die „Angst vor den Pfaffen“.
Nimm diese, dir eigene Empfindsamkeit als ein Geschenk deines Lebens an. Gerade so, wie du ohne zu zögern das Geschenk
deines offenen Herzens angenommen hast. Liebe und Empfindsamkeit sind Geschwister. Frage dich dann noch einmal, ob du Angst vor
den Pfaffen hast, Angst um dein Leben und Angst um deine geistige Gesundheit.“
Sie ging ins Haus um gleich darauf mit einem Fläschchen zurückzukehren.
„Hier, nimm. Die Essenz der Zitterpappel wird dir helfen“, beendete ich für diesen Abend die Geschichte.
Wie schon an den vergangenen zwei Abenden war auch die „kleine Nachtigall“ da und suchte den Austausch mit
mir.
„Ich weiß“, begann sie. „Jeder hat das Recht zu glauben. Und jedem geschieht nach seinem Glauben.
Andere haben die Erfahrungen, von jemandem als verrückt bezeichnet und angegriffen zu werden. Und jeder hat Recht.
Und Liebe, Geschichtenerzähler, kenne ich zur Genüge! Für mich ist Liebe auch immer etwas Körperliches. Ein
Umarmen, Händehalten, Küssen und mehr! Jede dieser Gesten dient nur dazu, Liebe auszudrücken. Wird Liebe
aber nicht nur ausgedrückt sondern auch gebraucht und gefordert—was bei der Mehrheit unserer Mitmenschen der Fall
ist—entstehen die Probleme, mit denen wir es gerade zu tun haben. Denn sag mir, wie soll der Mensch verhindern, geliebt
werden zu wollen oder zumindest beachtet werden zu wollen? Ich weiß, wir sind alle eins. Wüssten wir das auch alle,
gäbe es auch den Austausch. Du gibst und du bekommst. Doch wie häufig gibt man heute und erwartet, da wenige wissen,
wie der Austausch statt finden könnte! Ich danke denen, die mir gezeigt haben, wie es irgendwann sein wird, wenn alle es
wissen. Es hat mein Leben verändert. Dich liebe ich auch.“
„Liebe kleine Nachtigall, ich lausche deinem Gesang im Abendrot voller Freude. Es ist richtig, wie es ist. Alles befindet
sich im Wandel. Da ich meinen „Schrei nach Liebe“ erlebt habe, höre ich, wenn ein Mitmensch ihn
ausstößt. Ich habe deinen Worten nichts hinzuzufügen.“
Über die Liebe
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