Die Geschichte vom Franzmann

Wieder eine der kühlen Sommernächte und so erhellt der Schein des Feuers den Ulmenplatz.
„Was erzählst du uns heute, Geschichtenerzähler?“
„Ich kann euch die Geschichten vom Barbier erzählen. Viel habe ich erfahren über euer Dorf.“
Die Männer lachten.
„Nein, seine Geschichten kennen wir schon. Er ist unser größtes Tratschweib im Dorf! Wir wollen deine Geschichten.“

Meine Gedanken gingen zurück, tauchten ein in die Erinnerung.
„Ich erzähle euch heute die Geschichte von Gerard.“
„Was ist ein Scherar?“
„Gerard ist der Name eines Jünglings aus einem Land jenseits der Berge. Er hatte alles, verlor alles und ist dennoch reicher als jemals zuvor. Wollt ihr die Geschichte hören?“
„Ist sie wieder so traurig wie deine letzte Geschichte?“
Traurig? Ist diese Geschichte traurig? Was doch ein Lavendelsträußchen auslösen kann.
„Wie kann eine Geschichte traurig sein, wenn jemand reicher ist als jemals zuvor? Die Geschichte ist vielleicht länger als die bisherigen Geschichten. Aber ich kann sie euch ja an zwei Abenden erzählen.“ Die Männer nickten zustimmend.

„Ich begegnete Gerard zu einer Zeit, als Wolf und ich uns noch nicht gefunden hatten. Ich hielt mich damals vorwiegend im Wald auf und nährte mich von dem, was die Natur zu bieten hatte. Ich suchte gerade Beeren, als ich auf einmal fremde Klänge hörte. Eine männliche Stimme sprach recht ärgerlich im Tonfall in Worten, die ich nicht verstehen konnte. Ich ging dem Klang nach und fand einen Mönch, der sich mit seiner Kutte im Brombeerdickicht verfangen hatte.
„Mönchlein, möchtest du Hilfe?“
Er verstand mich wohl auch nicht und so gingen wir zu Zeichen über. Ja, er wollte aus diesem Brombeerengewirr heraus. Und so begann eine gemeinsame Zeit des Wanderns und des Lernens. Ein kluger Kopf, dieses Mönchlein.
„Nein, nischt Mönschlein. Gerard“, sagte er eines Nachts zu mir.
„Scherar?“
„Ja,  isch bin Gerard. Du bist?“
„Ein Freund.“
„Eina Frönd du bist?“
„Nenn mich Freund, Scherar“.
So begannen „Frönd“ und „Scherar“ ihre „Fröndschaft“.

„Ein Franzmann“,  lachten die Männer. „Du hast einen Franzmann im Wald gefunden?“

„Ja, einen Franzmann. Ich lernte von ihm und er von mir. Ich lehrte ihn die Natur und unsere Sprache, und er erheiterte mich durch seine Gegenwart. Wann immer ich jedoch in die Nähe von Städten oder Klöstern ziehen wollte (er war ja Mönch), blieb Gerard zurück. Er wollte lieber im Wald bleiben. „Isch maag nischt files Leut, Frönd“, meinte er und blieb im Wald zurück. Langsam zogen Zweifel ein in mein Herz über meinen Frönd Scherar. „Mit wem habe ich mich da zusammengetan? Ist er vielleicht gar kein Mönch?“
Gerard spürte diese Zweifel, schaute mich mit seinen wunderschönen Augen an (übrigens Augen, die einem Weib zur Ehre gereicht hätten) und meinte: „Frönd, einmal erzähl isch dir mein Geschicht. Gib mirrr Zeit. Isch muss noch besser lern dein Schprak.“
„Was hast du schon zu verlieren, Frönd“, dachte ich so bei mir. Also begann ich, ihn richtig sprechen zu lehren. „Isch ist ich, ch ch ch“, und klang dabei,  als würde ich eine Katze nachahmen. „Ch ch ch? „Jaaa, Scherar, ch ch ch.“ „Ichchch.“ Ich will euch nicht mit unserem Sprachunterricht langweilen, aber auch ich lernte, dass es nicht Scherar sondernd Gerard hieß. Wir hatten viel Spaß.
Nachdem also Gerard das richtige Sprechen gelernt hatte, erzählte er mir seine Geschichte.
Gerard ist ein Franzmann, wie ihr wisst. Er hat einen Bruder, Giscard (Schisskar) und eine Schwester, Leonie. Sein Vater war ein Bauer. (Ich weiß, Gerard, ein Landadeliger, dennoch ein Bauer.) Gerard und Giscard waren Zwillinge, doch unterschiedlicher als diese zwei Brüder konnte man selbst als Fremde nicht sein. Gerard war ein Sonnenschein, der jeden mit seinem Lachen beglückte; Giscard war die ernsthafte Seite. Leonie war ebenso ein Sonnenschein, ganz wie der Bruder. Als Mädchen durfte sie so sein. Gerard liebte es, in den Wiesen auf dem Rücken zu liegen und den Wolken zuzusehen, einen Grashalm zwischen den Lippen, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, ein Bein angewinkelt, das andere darüber gelegt. In der Ferne hörte er, wie seine Schwester ganz ernsthaft mit den Hühnern sprach. Er führte ein wundervolles Leben, fühlte sich frei, liebte das Land, liebte seine Geschwister, liebte die Mutter und liebte und fürchtete den Vater, den immer eine für ihn sichtbare dunkle Wolke umgab. „Gerard, du Nichtsnutz, weshalb bist du der Erstgeborene, weshalb nicht Giscard, der mir so ähnlich ist?“
„Papa, lieber Papa. Wächst das Korn, wächst das Gras, wächst der Lavendelstrauch nicht durch Gottes Gnade?“
„Gottes Gnade füllt aber nicht unseren Beutel! Füllt nicht unseren Bauch, du Dummkopf. Anstatt im Gras zu liegen solltest du lieber lernen, etwas für den Hof zu tun!“
Aber Gerard lag lieber im Gras, hörte den Grillen zu und schaute den Wolken nach, scherzte mit dem Gesinde und war eins mit dem Sonnenschein.“

„Wollt ihr noch Holz auflegen oder soll ich euch morgen weitererzählen“, meinte ich fröstelnd. Der Grund lag wohl eher an den Erinnerungen als am verlöschenden Feuer.
„Hee Alter, erzähl weiter“, wurde ich barsch aufgefordert.
Also gut, kein Entrinnen, kein Vertagen. Jetzt!

„Es kam, wie es kommen musste. Gerard und sein Vater gerieten in einen bösen Zwist. Das heißt, eigentlich hatte Gerards Vater den Zwist mit seinem Sohn begonnen.
Nichtsnutz, vermalledeiter! Liegt lieber bei den Mägden als sich um sein Erbe zu kümmern“, schrie er und holte aus, um Gerard eine Ohrfeige zu verpassen. Gerard hob seine Arme, um sich vor dem Schlag zu schützen. So begann das Ende.
Der Vater verstand in dieser Geste einen Angriff auf sich Was als Schutz gedacht war, ward als Angriff gedeutet. Der Vater und Giscard überwältigten Gerard. Das war das Ende seines Lebens als Gerard,  der mit den Wolken reiste; als Gerard, der nachts die Mägde beglückte; als Gerard, dessen Lachen niemand widerstehen konnte.
Es war der Beginn seines Lebens als Klosterbruder.“

 Aber das, meine lieben Dorfbewohner, erzähle ich euch nächste Nacht am Feuer. Ich bin müde und Wolf will schlafen. Auch das Feuer ist herunter gebrannt. Ach ihr Männer, die ihr niemals ein Ende finden wollt! Aber wir sitzen noch lange, wenn ich euch alles von „Scherar“ erzähle.
„Hee alter Mann, wir sind noch lange nicht müde!“
„Siehst du, „Frönd“, das ist der Unterschied des Alters“, verabschiedete ich mich mit einem Lachen.

Bruder Felix