Bruder Felix

„Ihr wollt also wissen, wie es mit „Frönd“ und Gerard weitergeht.“
„Ja, Alter, da hast du uns aber schön ins Ungewisse geschickt. Die halbe Nacht habe ich mir sein Schicksal ausgemalt.“
„Erzähle du die Geschichte weiter. Als Geschichtenerzähler lebe ich von Geschichten, erlebten oder erdachten. Auch ausgedachte Geschichten haben ein Leben.“
„Später vielleicht, Alter. Aber jetzt möchte ich erst wissen, wie du die Geschichte zu Ende erzählst“, lächelte er mich an.
„So sei es. Aber zuerst, liebe Dorfbewohner, brauche ich den sanften Schein des Feuers, um in meine Erzählerlaune zu kommen.“ Als alle im gebührenden Abstand um das Feuer saßen, erzählte ich weiter.

„Gerard musste erleben, wie sein Vater und sein Zwillingsbruder Giscard ihn überwältigten. „Er ist es nicht wert, mein Sohn zu sein! Erhebt die Hand gegen den Vater! Bindet ihn!“
Der Abt und mein Vater wurden sich schnell einig. Ein Beutel mit Münzen wechselte den Besitzer und Gerard ward Bruder Felix.“
„Dein Vater? Du meinst Scherars Vater, oder?“
„Sagte ich mein Vater? Ich habe mich versprochen. Der Abt und Gerards Vater wurden sich einig über einen Beutel prall gefüllt mit Münzen. So begann Gerards Leben als Klosterbruder Felix.
Bruder Felix liebte den Blick vom Glockenturm. Dort dachte er nach, dort fand er Frieden und endlich fand er dort seinen Weg zu Gott. Das Klosterleben drohte ihn zu zerbrechen, doch der Turm war seine Zuflucht. „Nichts ist, wie es scheint“, dieser Satz, in tiefster Verzweiflung empfangen in seinem Herzen, dieser Satz wurde sein Zentrum, seine Stütze, sein Trost. „...wie es scheint...“, ein Schein also. Was ist hinter dem Schein?  Er hörte, sah, roch, schmeckte, berührte mit seinem Herzen und erkannte das, was hinter dem Scheinbaren war.
Er begann, seine Beobachtungen niederzuschreiben, sie mit Erklärungen und Zeichnungen zu versehen. Blatt für Blatt, Tag für Tag. Er ordnete seinen Aufschrieb nach Pflanzen, diese danach ob sie heilten oder den Tod brachten, diese dann nach dem Alphabet. Als er keine Pflanze mehr finden konnte, die er noch nicht beschrieben hatte, wandte er sich den Tieren zu und schrieb nieder, was er sah. Die Jahre des Schweigens verbrachte er so in seiner eigenen Welt.
Eines Abends, als er seinen Rundgang durch den Klostergarten machte, bemerkten seine durchs Herz geschulten Augen, dass die kleine Pforte in der Mauer nicht ganz geschlossen war. Er setzte seinen Rundgang fort und als er auf der Höhe der Pforte war, stellte er sich so, dass seine Brüder meinten, Felix betrachte wieder etwas zum Niederschreiben. Sie kannten das. Er saß oder stand dann einfach regungslos, lange Zeit. Sie wandten sich wieder ihren eigenen Tätigkeiten zu und vergaßen Felix.
Felix wanderte die ganze Nacht und den nächsten Tag und die Nacht noch dazu. „Ich bin frei, frei“, jubelte er innerlich.
„Nichts ist, wie es scheint“, sprach das Herz.
Und Felix erkannte, dass er nie unfrei gewesen war.
Als ich ihn aus jenem Brombeergestrüpp befreite, hatte er schon seine Stimme wieder. Wir lachten manche Stunde, als er mir vorführte, wie er seine Stimme nach Jahren des Schweigens gelehrt hatte, nicht nur krächzende Geräusche hervorzubringen.
Als er unserer Sprache mächtig war, lernte ich von Gerard die Natur mit seinen Augen zu sehen. Und ich erkannte so wie er, dass nichts so ist wie es scheint.“

„Das also war die Geschichte von Gerard, der Felix wurde. Und von Felix, der wieder den Namen Gerard annahm aber Felix blieb“, unterbrach ich das Schweigen der Dörfler.
„Hatte Felix seinen Aufschrieb mitgenommen, Alter?“
Der Schreiber stellte diese Frage. (Er selbst schreibt an der Dorfchronik, wie er mir beim Barbier erzählte.)
„Er hatte nur das bei sich, was er auf dem Leibe trug. Seine Gabe der Beobachtung jedoch, sie hat er nie mehr verloren.“
„Wo ist Felix jetzt, Alter?“
„In meiner Erinnerung, Schreiber, in meiner Erinnerung.“

Wolf und ich verbrachten einige Wochen fern vom Dorf. Wir hatten uns in den Wald zurückgezogen. Ich brauchte Abstand, da die Geschichte mir noch in den Knochen saß. Doch die Schafskälte bringt nun dem Land die so dringend benötigte Kühle und den Regen, ehe der nächste heiße Sommer beginnt. Wolf meint, es sei Zeit unsere Einsiedelei zu beenden.