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Wie ich den Barden traf
„Müde und hungrig vom Wandern kehrte ich einst in einer Gaststube ein. Der Geruch vieler Menschen schlug mir
entgegen, vermischt mit dem aromatischen Duft von Kräutern, der einem Kessel über dem Feuer entströmte. Die
vielen Stimmen glichen dem beständigen Summen eines Bienenschwarms, hin und wieder unterbrochen durch schallendes
Gelächter oder das Gekreische einer Magd. Ich drängte mich an den Tischen vorbei zum Feuer, streckte meine Finger der
Wärme entgegen, schloss die Augen und gab mich den flackernden Lichter hinter der Dunkelheit hin.
„Etwas warmer Wein gefällig?“
So angesprochen, wurde ich in die Wirklichkeit der Gaststube zurückgeholt.
Ich nahm den Becher und schaute mich nach einem freien Sitzplatz um.
„Darf ich mich zu euch setzen“, sprach ich den Umriss eines Mannes an. Er wärmte, wie auch ich, seine
Hände am Kräuterwein. Er hob leicht den Kopf und schaute mich unter der Krempe seines großen Hutes hervor kurz
an, nickte und senkte erneut den Kopf.
Der Wirt brachte mir reichlich Geselchtes und Brot, mehr als genug für zwei.
„Greift zu, Fremder. Teilt das Mahl mit mir“, bot ich dem Schweigsamen an und schob das Brett zwischen uns. Als
hätte ich ihn aus einer anderen Welt zurückgeholt richtete er sich auf, nahm seinen Hut ab, schaute mich an. Ein
junges Gesicht noch, unendliche Tiefe, unendliches Wissen las ich in seinen Augen, doch ebenso auch unendliche Traurigkeit. Ein
junges Gesicht mit alten Augen, die mich aufmerksam studierten.
„Du bist schön, Alter! Gerne teile ich das Brot mit dir.“
“Kennst du das, Sandrina, wenn jemand spricht und du könntest schwören, er singt? So klar und melodisch war
seine Stimme, voller Kraft und doch nicht laut, jede Silbe genau richtig betont. Ich wollte noch einmal diese Stimme
hören und fragte ihn:
„Ich bin schön? Wo habt ihr eure Augen, Fremder. Ich bin ein alter Mann!“
„Ein alter Mann, dessen Augen den Glanz der Jugend nicht verloren haben. Ein alter Mann, der mit einem Fremden sein Mahl
teilt. Ein alter Mann, dessen Augen verraten, wie schön er ist.“
„Eure Stimme Fremder—sie verzaubert mich.“
„Darin ist sie geübt, Alter. Sie ist mein Broterwerb. Ich bin ein Barde.“
„Ein Barde! Ein singender Erzähler!“
„Was erfreut dich so, schöner alter Mann?“
„Ich erzähle auch—ich bin ein Geschichtenerzähler! Das ist mein Broterwerb.“
„Dann erzähle mir eine Geschichte, Alter. Lass mich die Welt durch deine Augen sehen, erzähle mir, wie du sie
siehst. Ich schenke dir ein Lied dafür!“„Nach unserer Mahlzeit, Barde, erzähle ich dir. Nun greift
zu!“„Er war ein schöner junger Mann, dir, Sandrina, nicht unähnlich. Sein Äußeres
war angenehm, sein Inneres offenbarte Empfindsamkeit und Verletzlichkeit, wie könnte es das Eine ohne das Andere auch
geben. Eine große Schöpferkraft war in ihm, die über seine Lieder hinaus in die Welt gelangte. Sehnsucht. In
jedem seiner Lieder ging es um Sehnsucht. Sehnsucht nach dem, das einmal war. Sehnsucht nach dem, was einmal sein
könnte.“
„Ja, das kenne ich. Ich sehne mich auch“, unterbrach mich Sandrina, „ich weiß nur nicht
wonach.“
Ich nickte wortlos und fuhr fort.
„Eigentlich wollte er, dass ich ihm eine Geschichte erzähle, doch im Laufe unserer Mahlzeit begannen wir eine
Unterhaltung.
„Alter,“ sagte der Barde zu mir „ich bin nicht wirklich hier. Was ist denn hier“, fragte er
mich. „Erlebst du hier?“
Vor lauter Sehnsucht nahm er seine Gegenwart nicht mehr wahr.
„Ja, Barde, ich erlebe „hier“. Das ist meine Wahl. Weshalb wählst du das Vergangene und das, was sein
könnte?“
Er zögerte mit seiner Antwort.
„Weil mir das „hier“ nicht gefällt.“
„Mir gefällt das „hier“ auch nicht“, stimmte Sandrina dem Barden zu.
„Der Barde, Sandrina, brachte mich mit diesen Worten zum Lachen. Verletzt schaute dieser mich daraufhin an.
„Findest du das lustig? Dass mir meine Gegenwart nicht gefällt“, fragte er mich.
„Das wollte ich dich auch eben fragen“, sagte Sandrina empört.
„Geduld, Sandrina, Geduld! Höre erst den Grund für mein Lachen, dann kannst du mich immer noch schelten“,
lächelte ich sie an.
„Ich habe dich nicht ausgelacht, Barde“, erzählte ich weiter. „Ich musste lachen, da ich einst in
einer ähnlichen Lage war. Denn dir gefällt deine Vergangenheit und damit müsste dir eigentlich auch deine
Gegenwart gefallen. Lass mich eine Erklärung versuchen“, kam ich Sandrinas Einwurf zuvor. (Sie sind sich wirklich
ähnlich, denn auch der Barde wollte mich genau an dieser Stelle unterbrechen.)
„Dir gefällt deine erträumte Zukunft, Barde. Deine Zukunft entsteht jedoch aus der gelebten Gegenwart. Jeder
Schritt, den du in diesem Moment machst, führt dich weiter in Richtung deines Zieles. Das „hier“, die
Gegenwart, ist ein kurzer Augenblick zwischen der Vergangenheit und der Zukunft, in dem du die Richtung deines weiteren
Lebensweges festlegst. Jeder Atemzug—oder jede gesungene Strophe deiner Lieder—ist sofort Vergangenheit, auch wenn
du glaubst, es sei die Gegenwart. Wenn du also dein „hier“ ablehnst, weil du deine Gegenwart als trostlos
empfindest, dann bleibt auch deine schöne Zukunft ein unerfüllter Traum vom Glück. Denn du empfindest deine
Gegenwart als trostlos und gestaltest deine Zukunft deshalb ebenso trostlos. Es bleibt dir einzig die Sehnsucht nach einem
unerfüllten Wunsch und deine Erinnerung an „schönere Zeiten“.
Barde, ich lebe und erlebe jeden Augenblick mit meiner ganzen Freude, richte meinen Blick auf den Reichtum eines
Sonnenunterganges, auf die Schönheit einer Libelle, auf die Wärme der Gaststube, auf das seidige, glänzende Fell
von Wolf, auf diese herrliche Brotzeit hier, ich gebe dem „hier“ meine ganze Aufmerksamkeit und Liebe. Ich sehe den
Reichtum des Lebens und empfinde Freude an dem, was mir begegnet.
Ich freue mich am Leben, Barde! Deshalb empfinde ich keinen Mangel. Ich gebe meine Liebe gerne an diejenigen, deren Blick
getrübt ist, an diejenigen, denen das „hier“ und „sein“ als sinnlos erscheint. Deshalb, Bruder,
musste ich lachen. Doch ich gestehe, dies war nicht immer so.“
Spiegelbilder
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