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Spiegelbilder
„Du erinnerst mich an meine eigene Vergangenheit, als wärst du ein Spiegel, in dem ich mich betrachten
darf“, sagte ich damals zum Barden als nochmalige Entschuldigung für mein Lachen und fuhr fort: „Ich
erzähle dir nun doch eine Geschichte, und zwar die Geschichte über mich und meine Weigerung, das „hier“
zu leben und meine Sehnsucht, dieses Leben hinter mir zu lassen.“
„Nein Alter! Du? Du wolltest auch einmal sterben? Das glaube ich nicht“, rief Sandrina mit ungläubigen
Augen aus.
„Ja, ich auch. Auch ich hatte einst die Sehnsucht, alles hinter mir zu lassen. Als ich im Kloster war, lebte ich lange
Zeit in der Vergangenheit. Ich sehnte mich nach Freiheit, fühlte mich als Sklave, erniedrigt, wehr- und wertlos. Ich
empfand ohnmächtigen Zorn, gar Hass, gegen die, die mir diese Last aufgebürdet hatten. Viele lange Jahre verbrachte
ich in diesen Gefühlen der Unterdrückung, der Hoffnungslosigkeit, der Werturteile, der Schuldgefühle. Erlebte
wieder und wieder den Augenblick, der, wie ich meinte, mein Leben vernichtet hatte, der mich einsperrte bei den
Schweigemönchen, bar jeglicher Freiheit—dies war mein Empfinden, damals. Es kam der Tag, an dem ich diesem Leben ein
Ende setzen wollte. Ich ging auf den Glockenturm, meinen Freund vieler verzweifelter Stunden, in der festen Absicht, noch
einmal die Weite des Landes unter mir in mich aufzunehmen und dann über diese Weite hinweg in das Eins
zurückzukehren. Ich wollte mich mit dem Strick meiner Kutte erhängen.“
Ich schwieg versunken.
„Und warum hast du es nicht getan, Alter“, fragte Sandrina.
„Was hielt dich ab, Alter?“ fragte mich diese kraftvolle, sanfte Stimme des Barden.
„Eine Spinne. Eine Spinne hielt mich davon ab. Genauer gesagt, eine Spinne, die gerade ein wunderbar silbrig
glitzerndes Netz spann, genau zwischen den Balken, an denen ich meinen Strick befestigen wollte. Ich schaute ihr in der
tiefstehenden Westsonne zu, wie sie einen Faden um den anderen webte. Ich beobachtete ihre Selbstverständlichkeit, mit der
sie ihrer Aufgabe nachging. Ein Faden fügte sich zum nächsten, bis sie selbst entschied, dass nun ihr Werk vollbracht
sei.
„Wer bin ich, solch ein Kunstwerk zu zerstören“, schoss es mir damals durch den Kopf.
„Du hältst dich also für geringer als ein Spinnennetz“,
fragte mich meine innere Stimme, der ich in den Augenblicken der Verzweiflung den Mund verboten hatte.
„Nichts ist, wie es scheint. Schau hinter den Schein!“
Diese zwei Sätze veränderten mein Leben. Ich erkannte, dass es meine Wahl ist, welche Bedeutung ich dem gebe, was
mir begegnet. Ich erkannte, dass ich, und nur ich selbst darüber entscheide, wie ich ein Ereignis bewerte oder ob ich es
überhaupt bewerte, denn niemand zwingt mich dazu. Da Bewerten jedoch in der menschlichen Natur liegt, traf ich die
Entscheidung, dass alles einen Sinn hat, was in mein Leben tritt—denn sonst wäre es nicht in mein Leben getreten. Es
ist richtig, wie es ist. Weil es IST. Auch wen sich mir der Sinn nicht sofort erschließt. Spätestens nach meiner
Rückkehr ins Eins werde ich den Sinn wissen“, schloss ich mit einem Lächeln.
„Was sagte der Barde“, wollte Sandrina wissen, da ich wohl wieder etwas zu lange geschwiegen hatte.
Ich glaube, ich sagte das schon einmal. In diesen Pausen, die wir Alten beim Erzählen machen, da verschwindet die
Gegenwart und wir sind wieder im „damals“.
„Alter“, meinte der Barde, „auch du bist für mich wie ein Spiegel. Ich erkenne mich in deiner
Geschichte. Während du erzähltest, empfand ich den Grund für meine Weigerung, im jetzt und heute zu leben.
Es war der Tod meines Vaters, der mich die Vergänglichkeit erleben ließ. Ich schaute nicht hinter den Schein, Alter.
Ich empfand es als ungerecht, dass er starb und mich der Möglichkeit beraubte, ihm eines Tages die Freude über
Kindeskinder zu schenken. Ich trauerte um meine eigenen Wünsche, ich trauerte um das, was ich noch alles hatte tun wollen
und jetzt nicht mehr verwirklichen konnte. Und ich trauerte darum, in der Vergangenheit nicht häufiger gesagt zu haben,
wie sehr ich ihn liebe. Ich beweinte das, was ich im „hier“ versäumt habe. Ich weiß jetzt, was du meinst
Alter. Ich kann heute nicht wissen, ob es ein morgen gibt. Wenn etwas wichtig für mich ist, dann verschiebe ich es
nicht.
In meinem Kopf sind Töne! Ich höre eine Melodie, ein Lied so fröhlich, dass mir das Herz zerspringt vor
Freude. Alter, nichts für ungut, aber ich möchte sie gleich niederschreiben, solange ich sie noch
höre“, sagte er mit einem fröhlichen Lachen und verließ hastig die Gaststube.“
„Hat er dir das Lied vorgespielt, Alter“, fragte mich Sandrina.
„Nicht an jenem Abend, Liebes. Aber ich erkannte ihn einst auf einem Fest, als er das Lied spielte. Auch dieses Lied
weckte Sehnsucht—doch diesmal danach, dass Lachen, Freude, Glück, Fülle, dass all dies immer in uns sein
möge.“
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