Der Hilferuf

Alter, komm, ich brauche Dich. Ich bin unendlich verzweifelt, und weiß nicht mehr, wie ich weiterleben soll .“

Ich trieb Wolf zur Eile an, verlor meinen gemächlichen Trott und hastete auf viel begangenen Wegen zu meinem Ziel. Hie und da konnten wir auf einem Wagen fahren, gab es für Wolfs Pfoten und meine Füße eine Pause. Ich, der für sich in Anspruch nimmt, alle Zeit der Welt zu haben, ich hatte plötzlich keine Zeit mehr. Die Verzweiflung, Schmerz und Tränen hinter dieser Botschaft ließen mein Herz mit ihr leiden, erzählten mir wieder einmal die Geschichte von Liebe und Verlust.
Schmal war sie geworden. Ihr Gesicht verriet die Tränen, die Mundwinkel zuckten in einem Lächeln, das die Augen nicht erreichte.
„Zum ersten Mal seit langer Zeit fühle ich wieder Liebe, Alter! Danke, dass du dir die Zeit für mich nimmst. Aber es ist sowieso sinnlos. Ich bin 28 Jahre alt und wünsche mir nur noch, dass es endlich besser wird oder ich endlich sterbe. Versucht habe ich es schon. Aber auch hier bin ich ein Versager, ich kann mich nicht mal selbst umbringen!“
„Deine Nachricht lässt mich hoffen, Liebes, dass ich etwas Licht in dein Dunkel bringen kann. Weshalb hättest du mir sonst geschrieben? Soll ich deine Hand halten, während du stirbst? Auch das mache ich. Aber lass uns versuchen herauszufinden, was dich so quält. Dann kannst du dich entscheiden, ob du dein Schlachtfeld des Lebens verlassen willst, oder ob du dem Krieg mit dir selbst den Rücken kehrst und dich versöhnst mit dem, was dich seit Anbeginn deines jungen Lebens zu den Höllengeistern schickt.“
Wir saßen uns gegenüber. Bei meinen Worten schoss ihr das Wasser wieder in die Augen. Wann hatte sie das letzte mal aus ganzem Herzen gelacht?
„Weshalb glaubst du, dass du ein Versager bist, Liebes?“
„Das ist so! Schau dir doch mein Leben an! Meine Eltern verglichen mich immer mit meinen Geschwistern. Die konnten alles besser als ich. Seitdem ich denken kann, bin ich ein Versager! Ich habe nichts, gar nichts jemals zu Ende gebracht—nicht einmal meinen Freitod.“
Auch damals hatte sie schon die Schwermut gefangen genommen, damals, als sie an den abendlichen Feuern saß, an denen ich für sie vom „Traurigen Prinzesschen“ erzählte. Ich sah ihre Schwermut und durfte dennoch nicht eingreifen. Ihre Seele wollte das erleben, was sie in den vergangenen Jahren erlebt hatte, den Weg des Opfers, verbunden mit Gefühlen der Angst, der Schuld, der Minderwertigkeit, der Sehnsucht nach dem Tode.
„Du fühlst dich ausgebrannt, wie das verlöschende Feuer, an dem ich meine Geschichten erzähle. Du fragst dich, wozu du überhaupt noch weitermachen sollst, denn dein Leben gefällt dir so nicht mehr?“
„Ja, genau so ist es!“

„Liebes, ich erzähle dir eine Geschichte. Die Geschichte vom unendlich traurigen Barden, den ich an einem kalten Abend in einer Gaststube getroffen habe. Es ist auch eine Geschichte über mich selbst. Ich wollte sie vor ein paar Abenden am Feuer erzählen, als ich deinen Hilferuf erhielt und eilends aufbrach. Eigentlich wollte der Barde, dass ich ihm eine Geschichte erzähle—ich greife vor. Entschuldige.“

Wie ich den Barden traf