Als ich ein Wolf war

Mein Alter und ich saßen am Feuer, das nur noch schwach vor sich hin glühte.
„Lass uns noch etwas Holz auflegen, Wolf“, meinte er. „Mir ist kühl. Seitdem Friedo nicht mehr für Holz sorgt, muss ich alles alleine machen. Wolf, weißt du eigentlich, wo die ganzen Dörfler geblieben sind? Ohne dich wäre ich ganz schön einsam hier, unter der Ulme!“
Das Feuer loderte wieder hell.
„Alter“,  sagte ich, „es ist kein Zufall, dass ich Wolf genannt werde. Magst du meine Erinnerungen hören?“
„Nur zu, mein Guter“, meinte er. Er beugte sich zum Feuer, nahm ein glühendes Stück Holz und zündete sich dieses Ding an, das er Pfeife nennt. Er zaubert damit große Wolken und verschleiert für kurze Zeit die Sterne.
Ich richtete mich auf. Mein Alter strich mir über den Kopf, schaute mir aufmerksam in die Augen, von denen er sagt, sie würden leicht schräg stehen. Ich begann also, ihm etwas zu erzählen, was ich noch nie einem Menschen erzählt hatte.
„Alter, einst war ich ein Wolf. Ich erinnere mich noch genau daran, da ich als Wolf das erstemal erfuhr, was Schmerz ist.
Ich glitt als helles Licht durch die Zeitlosigkeit, als ich am Tor des Vergessens vorbeikam. Jeder weiß, wenn wir durch dieses Tor gehen,  vergessen wir, wer wir sind. Wir wählen eine feste Form, in der wir uns dann als „am Leben“ bezeichnen. Wenn wir die Gestalt eines Menschen annehmen, vergessen wir alles. Ich entschied mich, das Leben eines Tieres zu leben, denn als Tier wissen wir noch, woher wir kommen. Ich erlebte meine Geburt als tiefes Blau, das bis zum Zeitpunkt des Austritts in die dichte Welt immer dunkler wurde  Ich wurde als Wolf geboren, was ich jedoch bei meiner Geburt nicht mehr wusste. Ich erblickte mich zuerst in den Augen meiner Mutter, die mich lehrte, dass ich ein Wolf war.
Ich weiß nicht mehr wie ich aufwuchs. Doch das Gefühl, auf vier Pfoten über den Boden zu schreiten, dieses Gefühl habe ich immer noch in mir. Die Pfoten berühren den Boden gar nicht richtig, die Ballen federn ab. Es ist, als hätte ich Luft zwischen dem Boden und meinen Pfoten. Als Hund ist es ähnlich, aber eben nicht ganz so.

Die nächste Erinnerung ist dieser unsägliche Schmerz. Ja, wir Tiere haben auch Empfindungen. Es war der Tag, als meine Wölfin von einem Bären gerissen wurde. Ich konnte nicht begreifen, dass sie nicht aufstand. Ich berührte sie immer wieder mit meiner Schnauze. „Steh auf, Gefährtin, wir müssen weiter“, aber sie rührte sich nicht mehr. Da begriff ich, dass ich alleine war, dass sie nie wieder aufstehen würde. Ich umkreiste sie, nahm Abschied und heulte meinen Schmerz in die Nacht. Ein Schrei, den dieser Wald niemals zu vergessen im Stande ist.
Ich lebte noch lange, das weiß ich. Genau erinnere ich mich wieder an die Stunde meiner Rückkehr. Ich war in eine schmale Höhle gekrochen, legte mich auf die Seite und wusste, dass mein Leben als Wolf zu Ende gelebt ist, dass ich zu meinen Gefährten des Lichts zurückkehren würde. Ich hatte niemals vergessen, woher ich kam. Alle Tiere wissen, woher sie kommen“, wiederholte sich Wolf. „Nur für die Menschen ist es ein „Tor des Vergessens“, aber das ändert sich gerade.“

Mein Alter legte seine Arme um mich, strich mit einer Wange über meine Schnauze.
„Ja, mein treuer Wolf, das hast du gut erkannt. Immer mehr Menschen erinnern sich. Weißt du Wolf, mein Leben als Mensch ist vergleichbar mit einem Traum. Während ich träume, meine ich, wach zu sein. Wenn ich erwache, bemerke ich, dass ich geträumt habe. Lieber Wolf, deshalb können wir Menschen „erwachen“, was einem bewussten Erinnern entspricht. Vielleicht träume ich ja auch nur einen neuen Traum, den Traum der bewussten Erinnerung. Die Natur, ihr Tiere, Pflanzen Steine, Erde, ach, eben alles, außer uns Menschen, ihr verliert niemals die Erinnerung, oder? Ist das der Grund, weshalb so wenige von uns Menschen eure Sprache verstehen? Weil ihr uns erzählen könnt, wie ES ist? Aber wahrscheinlich würden wir Menschen euch sowieso nicht glauben.“