Wie ich zum Alten kam

„Ich bin Wolf, das heißt, eigentlich bin ich das, was die Menschen „Hund“ nennen. Wolf ist mein Name. Ich mag meinen Namen. Er erinnert mich an meine Vergangenheit. Wisst ihr eigentlich, dass wir Hunde wirklich von Wölfen abstammen? Selbst der Kleinste von uns? Wir alle haben den Urvater und die Urmutter Wolf.

Manchmal fällt es mir schwer, dies zu glauben, wenn mir so ein Winzling begegnet, der durch sein schrilles Gekeife behauptet, Hund zu sein.
„Bin Hund, bin Hund, bin Hund, bin Hund.“
Ist ja gut, ich glaubs dir ja, denk ich dann so bei mir und schüttle mich erst einmal kräftig.
„Bin Hund, bin Hund, bin Hund...“
„Hgrrr—hör auf, du, der du kleiner bist als eine Katze! Du tust meinen Ohren weh! Ich zeige dir sonst, was ein Wolf ist!“
Und was macht der Winzling? Rennt zu seinem Menschen und behauptet, ich wolle ihn fressen. Und was macht dieser Mensch? Der beschützt seinen Winzling.
„Hau ab du Mistköter! Mach, dass du wegkommst, du stinkende Kreatur!“
Ich schau mich um—ich rieche keine stinkende Kreatur. Hier bin doch nur ich! Der Winzling stinkt auch nicht!
Eigenartig diese Menschen, die mehr sehen als ich. Eigenartig ist auch, dass der Mensch den Hund beschützt. Eigentlich ist es anders herum, seitdem wir Wölfe uns zähmen ließen und zu Hunden wurden. Nun denn, dieses Spiel ist mir zu langweilig. Ich drehe mich einmal um mich selbst (vielleicht entdecke ich ja doch noch die stinkende Kreatur) und wende mich interessanteren Dingen zu.

Ich habe nämlich soeben den Geruch eines netten Menschen aufgenommen. Nicht ganz so nett wie mein Freund, der Alte. Niemand ist so nett und lieb zu mir wie der Alte. Der hat mich nämlich gerettet, als ich schon mit meinem so kurzen Leben abgeschlossen hatte und langsam auf die Regenbogenbrücke zuging.
Als ich noch ganz klein war, wurde ich einst des Nachts von einer Hand gepackt und vom warmen, kuscheligen Bauch meiner Mutter weg in etwas gesteckt, was die Menschen Sack nennen. Es war dunkel da drin. Ich fühlte, wie mich ein Mensch einem anderen in den Arm drückte.
„Am besten ertränkst du ihn gleich! Das wäre barmherziger, der ist zu klein, den bringen wir nicht durch.“
„Überlasse das mir, Sohn. Hebe du inzwischen die Grube aus. Eine Schande ist das! Vier Welpen und die Hündin! Nun mach schon! Unsere Weibertränen machen sie auch nicht mehr lebendig.“
Der Sprecher setzte sich in Gang und drückte mich während des Gehens mit beiden Händen gegen seine Brust. Ich hörte das Wasser schon lange, ehe der Mann überhaupt am Fluss halt machte. Er hielt mich immer noch an seine Brust gedrückt, eine Hand streichelte den Sack, in dem ich steckte.
„Armes kleines Kerlchen—eine  Schande, wirklich eine Schande!“
So stand er regungslos, nur die Hand streichelte mich.
„Ich kann es nicht!“
Er setzte sich wieder in Bewegung, wieder weg vom Fluss. Durch das Schaukeln bin ich dann eingeschlafen und wurde erst wieder wach, als mich die Hand im Nacken packte und mich aus dem Sack holte.
„Aber das ist doch unser Herr“, durchschoss es mich freudig.
Er drückte sein Gesicht in mein Fell, und ich wurde dort ganz naß. Ich wedelte mit meinem kurzen Schwänzchen und leckte ihm über das Gesicht.
„Gott behüte und beschütze dich, mein Kleiner!“
Er setzte mich behutsam ab, nahm einen Strick aus der Tasche, legte ihn mir um den Hals, band ihn an einem Baum fest, deckte mich mit dem Sack zu, drehte sich um und ging.
Er ging?  Er ging und ließ mich zurück? Ich lief ihm hinterher und wurde durch einen Ruck aufgehalten. Das also machte der Strick! Ich konnte nicht weg! Ich versuchte lange Zeit, den Strick durchzubeißen, aber ich hatte ja noch keine Zähne so wie heute. Schließlich gab ich es auf. Ich legte mich auf den Bauch, den Kopf zwischen meinen Pfoten und schlief ein.
(Ich schlief damals noch sehr viel.)
Ein Rascheln der Blätter weckte mich.
„Er kommt zurück!“
Nein, nur eine Maus, die mich neugierig anstarrte und davon lief. Der Morgen brach an und das Rascheln um mich herum nahm zu.
„Vielleicht kann er mich jetzt wieder finden, jetzt, wo er wieder sehen kann.“
Doch mit jedem Rascheln, ein Vogel, ein Eichhörnchen, ein Reh, gab ich immer mehr meine Hoffnung auf. Die Hoffnung, dass er zurück kommt und mich finden würde. Ich hatte Hunger, und ich fror. Und ich weinte auf Hundeart.
Als ich das Rascheln nicht mehr beachtete, als ich aufgehört hatte mich zu fragen, warum unser Herr mich denn zurückgelassen hatte, aufgehört hatte mich nach meiner Mutter und meinen Geschwistern zu sehnen, aufgehört hatte leben zu wollen und mich im Herzen hin zum Regenbogen bewegte, da geschah das Wunder.
Mein jetziger Herr, der Alte und Wanderer, er hat mich gefunden und gerettet. Seitdem liebe ich ihn mit der ganzen Kraft meines Hundeherzens, seitdem begleite und beschütze ich ihn auf all seinen Wegen. Wir haben viel erlebt, er und ich. Ich kann euch gar nicht beschreiben, wie es sich anfühlt, mit ihm gemeinsam durch die Welt zu gehen. Ihr müsstet die Welt mit meiner Nase sehen können. Müsstet sehen können, wie die Jahreszeiten riechen und wie meine Nase nette und nicht so nette Menschen unterscheidet. Müsstet mit meinen Augen die Farben der Welt sehen. Dann würdet ihr auch verstehen, weshalb ich manchmal belle, um die Schatten zu verscheuchen, die ihr Menschen nicht wahrnehmen könnt.
Mein Alter, der versteht mich.
Aber zurück zu dem Geruch des netten Menschen, den ich eben aufgenommen habe. Während ich euch die Geschichte erzählt habe, wie mein Alter mich gefunden hat, bin ich dem Geruch nachgegangen.
Eine Frau ist es, mit vielen kleinen Kindern um sie herum. Sie sind im Garten und spielen. Ob ich da wohl mitspielen darf?“ Mit dieser Frage beendete Wolf seine Geschichte.

Natürlich durfte Wolf zu den Kindern. Er hatte zu der rundlichen Frau gefunden, die den Zwiebelkuchen gebacken hatte. Begeistert ließ er sich von ihr kraulen und spielte dann mit den Kindern. Sie warfen Holzstöcke, die er ihnen unermüdlich wieder brachte. Sie balgten sich mit ihm wie kleine Welpen und nahmen ihn als Kopfkissen, als sie müde waren vom Spiel. Alle waren glücklich, als sie nach einem kurzen Schläfchen ein Stück vom Zwiebelkuchen bekamen, der noch vom Vorabend übrig war. Dummerweise erhielt auch Wolf sein Stückchen, da er so unnachahmlich betteln kann.
In dieser Nacht zog ich es vor, unter dem Sternenhimmel zu übernachten.

Als ich ein Wolf war