Über die Liebe

Heute erzähle ich euch die bisher längste Geschichte. Wie könnte es auch anders sein? Über die Liebe gibt es viel zu erzählen.

Der Hund Angst

Friedhelm verbrachte noch einige Zeit in dem Jagdhaus seines Vaters, das sein Bruder nicht nutzen mochte. Zu viele Erinnerungen an den Vater, an das Lachen, an die Unbeschwertheit der Jugend. Das half Friedhelm jetzt dort Ruhe zu finden und den Worten der Kräuterhexe nachzuschmecken.
Er saß einfach auf der Bank vor dem Haus, hörte dem Gesang der Vögel zu von Dämmerung zu Dämmerung. „Eigenartig. Ich habe früher nie bemerkt, dass Vögel ihren Gesang während des Tages ändern. Oder scheint es mir nur so, da ich ihnen zuhöre? Da ich nicht mit meinem Tagwerk beschäftigt bin?“ Er hob sein Gesicht zur Sonne hin, die ihn gedämpft durch das Laub der Bäume streichelte und wärmte. Er trat seine Reise zu sich selbst an.
„Schau dir deine Angst an“, sagte eine innere Stimme.
„Schau sie an. Wie sieht sie aus“, fragte sie.
„Wie ein wildes schwarzes Tier mit glühenden Kohleaugen, schrecklichen Zähnen, Geifer aus dem Maul tropfend“.
„Schau noch einmal hin. Was will das Tier von dir. Was sind seine Gefühle?“
Friedhelm schwieg lange auf die Frage seiner Stimme.
„Ich kann nicht glauben, was ich fühle. Aber das Tier hat Angst. Es tut so schrecklich, da es nicht von mir getötet werden will.“
„Dann nimm dein Herz voller Liebe, so voll, wie es ist, wenn du Kranke heilst. Gehe auf das Tier zu und gebe ihm deine Liebe.“
Friedhelm bewegte sich in seinem Inneren auf das Tier zu. Alle Angst vor dem Tier war der Liebe seines Herzens gewichen. Das Tier veränderte seine Form, je näher er ihm kam. Die Kohleaugen verglühten, die schrecklichen Reißzähne verschwanden, der Geifer wich dem Hecheln eines freundlichen Hundes. Als Friedhelm ihm seine Hand auf den Kopf legte, schaute ihn der Hund voll Vertrauen und Liebe an.
„Weshalb verstellst du dich, Hund“, fragte Friedhelm seine Angst.
„Als du in dieses Leben getreten bis, Herr, war ich so, wie du mich jetzt siehst. Ich bin dein Wachhund namens Angst, soll dich vor Gefahren bewahren. Im Laufe deines Lebens musste ich meine Gestalt verändern, da du mich nicht hörtest. Je schrecklicher ich wurde, desto mehr hast du mich wahrgenommen. Deine Angst vor Angst, deinem Beschützer, gab mir die Nahrung, mich noch fürchterlicher werden zu lassen, so dass ich hinter jeder Ecke lauerte, um die du gebogen bist. „Angst! Angst“, hast du gerufen, „und ich kam, wie das gut erzogene Hunde tun. Ich kam als Freund, aber du ranntest als sei der Beelzebub hinter dir her.“
„Du meinst, ich selbst habe dich als Ungeheuer erschaffen“, fragte Friedhelm erstaunt. „Lass uns wieder Freunde sein, Hund Angst, mein Beschützer. Bleibe an meiner Seite, stoß mich an, wenn ich mich in Gefahr begebe, oder zwicke mich ins Bein, wenn ich dich nicht gleich höre. Ich verspreche dir, ich werde dich nicht mehr grundlos hin und her hetzen.“
Als Friedhelm sich an seinen Hund Angst schmiegte, wachte er auf. Er rieb sich die Augen.
„Welch eigenartiger Traum“, schüttelte er den Kopf in Unglauben. Er erhob sich von der Bank, ging ins Haus, nahm sein Bündel und ging zurück zum Waldberg.

Der Abt

Auf seinem Tagesmarsch deuchte ihm die Landschaft heller, fröhlicher. Er genoss es, den Menschen auf seinem Weg einen fröhlichen Gruß zu entbieten, die erstaunt und dennoch gerne seinem Gruß ebenso fröhlich antworteten. An einer Weggabelung spürte er einen leichten Stoß im Kniegelenk, der ihn nach rechts lenkte.
„Angst?“
„Ja, keine Gefahr, nur um wirkliche Gefahr auszuräumen. Geh zu den Pfaffen“.
Im Vertrauen auf seinen Beschützer klopfte Friedhelm am Klostertor und verlangte den Abt zu sprechen.
Er verbeugte sich tief, als er in das alte, sanfte Gesicht des Abtes sah.
„Friedhelm vom Waldberg! Ihr findet den Weg zu mir? Setzt euch und sagt, was ist euer Begehren?“
Friedhelm erzählte. Er erzählte von seiner Kindheit, der Mutter, deren Leiden, der Kräuterhexe. Er erzählte von der Liebe in seinem Herzen und von der Ehrfurcht, die ihn erfüllte, dass er Leiden heilen oder mindern durfte. Erzählte von der Dankbarkeit, die er empfand für den HERRN, der ihm diese Gabe in seiner Gnade verliehen hatte. Mit jedem Satz wich des Abtes Spannung, besonders bei dem letzten.
„Friedhelm, ich danke euch für den Besuch und für eure Offenheit. Ich gestehe, dass einige von uns meinen, ihr seid vom Teufel besessen. Ich glaube euch, sehe die Liebe in euren Augen. Wenn ihr des Teufels seid,  dann wäre der Teufel die reine Liebe.“
Er schwieg versunken, Friedhelm schwieg mit ihm.
„Friedhelm vom Waldberg, ich möchte fühlen, wie es sich anfühlt. Ich habe ein Gebrechen“, begann der Abt.
„Ja, gütiger Vater, ich weiß“, unterbrach Friedhelm. „Die Gicht hat sich eingeschlichen, unbemerkbar noch für das Auge. Kommt, ich kann euch Linderung verschaffen.“
Der alte Abt begab sich in die Hände von Friedhelm. Friedhelm schloss die Augen.
„Gütiger Vater, kleine Edelsteine haben in eurem Körper eine Heimat gefunden. Ich zeige ihnen den Weg heraus, dann wird euer Körper wieder frei sein von Schmerzen.“
Als Friedhelm wusste, dass nun auch der kleinste Edelstein den Weg ins Licht gefunden hatte, nahm er die Hände vom Abt, nahm sein Bündel, bewegte sich leise, um den schlafenden Abt nicht zu wecken, und öffnete die Tür.
Der Abt jedoch erwachte just in diesem Moment. „Friedhelm vom Waldberg, geht noch nicht. Auch ich habe ein Geschenk für euch.“
Friedhelm blieb stehen, wandte sich dem Abt zu.
„Friedhelm vom Waldberg, der über diese Gabe von Gnaden Gottes verfügt, niemand wird euch verfolgen. Ich bürge für euch. Geht zum Waldberg und verbreitet euer Licht zum Wohle aller. Gottes Segen sei mit euch.“

Auf dem Weg zurück zur Weggabelung sprach sein Hund Angst, der Beschützer:
„Siehst du, der Weg nach vorne war der Richtige. Du hast mir vertraut und schlugst einen Weg ein, den die Bestie dir verwehrt hätte. Aus deinem Vertrauen wachsen neue Kräfte. Du hast verstanden!“

Heimkehr

„Bruder“,  rief Gregor. „Bruder, ich habe mir solch Sorgen um euch gemacht! Und erst Mama! Wo wart ihr nur so lange? Und all die Leute in der Scheune—ausgeharrt haben sie!
Macht euch frisch und erzählt mir. Außer mir vor Sorge war ich, und ihr kommt mit einem fröhlichen Gruß nach Hause. Was ist geschehen?“
Friedhelm kam gar nicht zu Wort. Er legte die Arme um seinen Bruder, zog ihn an sich und ließ seine Liebe in ihn strömen.
„Bruder...“, sagte Gregor und fuhr fort in vertrauter Anrede,  „etwas Wundersames ist mit dir geschehen. Du bist größer, strahlender als vor deinem Weggang! Aber irgendwann wirst du es mir erzählen. Komm ins Haus, Mama wartet.“
„Endlich, Friedhelm, endlich“,  umarmte Felicia ihren Jüngsten, der nach einem Bade wohlduftend vor ihr stand. „Endlich!“
„Mama, liebste Mama!“ Er nahm ihre Hände, schaute in ihre Augen und tauchte tief in ihre Seele ein.
„Mama, ich möchte euch noch einmal heilen. Lasst mich erzählen, was geschah, was ich über die Liebe erfahren habe.“
Er setzte sich neben sie auf ihre Liege, ihre Hände immer noch in den seinen.
„Erinnert euch, Mama, an Gregor, unseren Vater, euren geliebten Mann. Nein, nicht traurig werden. Erinnert euch und taucht ein in die Zeit des Glücks.“ Sie lächelte mit geschlossenen Augen und Friedhelm wusste, dass sie angekommen war.
„Badet in diesem Gefühl der Liebe und des Glücks. Öffnet die Augen, wenn euch dieses Gefühl ganz und gar erfüllt.“
Zwei Sonnen strahlten Friedhelm an, die Augen der Mutter aus den Kindertagen.
„Ja, Mama, so ist es. Die Liebe vergeht niemals. Sie ist auch nicht nur in den Erinnerungen, sie ist ständig in euch. Sie ist das Licht, in das ihr im Kummer nicht blicken könnt. Dann fällt die Welt für euch in Dunkelheit und Schmerz. Die Liebe jedoch ist immer noch da. Ihr habt die Macht, sie nicht anzuschauen, und ihr habt die Macht, euch dem inneren Lichte wieder zuzuwenden. Das, was euch andere an Liebe geben können, wenn ihr euch von dem eigenen Licht abgewandt habt, das ist nur ein Schatten dessen, was ihr selbst in euch tragt. Das ist die Menge an Licht, die ihr in eurer Dunkelheit glaubt ertragen zu können. Das Wort dafür ist Trost.“
„Ich finde meine Liebe nicht, oder mein Licht, wie du es nennst, Friedhelm. Wo soll ich suchen?“
„Mama, meine innere Stimme erzählte mir das folgende Gleichnis:

„Am Tage der Geburt fängt eine Hecke an zu wachsen. Die Hecke des Vergessens. Mit jedem Jahr wird diese Hecke dichter. Damit du jedoch nicht ein Leben voller Dunkelheit leben musst, begegnen dir Menschen, die dich lieben und glücklich machen. Wie in einem Spiegel erblickst du dann die Liebe, die hinter deiner Hecke verborgen ist. Und du liebst diese Wärme, das Glück des Geborgenseins, das du durch deinen Gegenüber erfährst.
Du bekommst nie genug davon, denn es ist die wahre Natur, mit der du geboren wurdest. Die Kraft deiner Liebe zu Mensch und Tier ist das Schwert, mit dem du die Hecke wieder lichtest. An diesen Stellen bleibt die Hecke offen, wächst nicht wieder zu. Denn sie ist gelichtet durch dich selbst und nicht durch die Erinnerung an das Eins.“

Ihr fandet eure wahre Natur im Spiegel von Gregor, unserem Vater. Deshalb, liebe Mama, konntet ihr gerade auch eintauchen in das Gefühl der Liebe zwischen euch und dem Vater. Es war jedoch das Licht hinter der Hecke, das in einem dicken Strahl euch umhüllte. Es war eure eigene Liebe, in die ihr eingetaucht wart.“
Friedhelm machte eine Pause, um seiner Stimme die Dringlichkeit zu nehmen.

„Mama, das ist es, womit ich heile. Mit jeder Heilung tauche ich ein in mein Licht und benutze das Schwert meiner Liebe, um immer größere Lücken zu schaffen. Als Erinnerung lasse ich die Hecke in einer Höhe stehen, über die ich mit Leichtigkeit steigen kann. Denn auch die innere Hecke soll nicht vernichtet werden, sie wurde in Liebe erbaut durch unseren Schöpfer, damit wir durch uns selbst zurück zum Lichte finden.“
„Du sagst mir also, Friedhelm, dass die Liebe niemals stirbt, gleichgültig,  was ich erdulden musste? Dass sie trotz all meinem Leid ständig hinter der Hecke verborgen ihr Licht durch das Blattwerk strahlen ließ? Und ich mich, durch meine Angst vor Schmerz, nicht mehr getraut habe in das Licht zu sehen? Ist es das, was du mir sagen willst, Friedhelm?“
Er nickte ihr lächelnd zu. Sie zog ihre Hände unter denen Friedhelms hervor. Es war getan.
Seit vielen Wintern hörte er das erstemal wieder ihr glockenklares Lachen.
„Wie dumm ich doch war! Komm Sohn, lass uns das Schwert schmieden. Die Leute in der Scheune brauchen eine Mahlzeit!“

Mit der Zeit

Die Friedhelmer erzählten mir, dass Gregor ein Weib freite, deren Vater reichere Ländereien besaß und keinen männlichen Erben hatte. Friedhelm übernahm das Lehn von Gregor und führte das Land so, wie es Friedhelm führten musste: Im Licht der Liebe.
Meine Zeit war gekommen, mich von ihnen zu verabschieden. Wolf und ich gingen wieder auf Wanderschaft.
Nun wusste ich also, wie man durch Hand auflegen Mensch und Tier heilen kann. Und ich wusste es dennoch nicht. Und ich wusste, wie ich Angst begegnen kann. Und ich wusste es dennoch nicht.
Aber die Geschichten von Gregor, Felicia und Friedhelm blieben in meiner Erinnerung.
Mit der Zeit sah ich selbst die Angst nicht mehr als Untier, mit der Zeit fühlte ich die Liebe zum Leben, mit der Zeit konnte ich die Welt durch Friedhelms Augen sehen. Und mit der Zeit lichtete ich das Blattwerk in meinem Inneren.“

Stumm ließen meine Zuhörer am Feuer die Geschichte nachwirken. Selbst die schöne Sängerin sagte heute Abend nichts.