ie Friedhelmsaga

Ich sagte euch einmal, dass mich der beständige Trott mit Leichtigkeit große Strecken zurücklegen lässt—und so machen wir es jetzt auch mit dieser Geschichte. Entscheidet in euren Herzen, worüber die folgenden Geschichten erzählen.


Über die Liebe

Vor vielen Wintern kehrte ich gegen Abend in einem Dorfe ein, das anders als andere Dörfer sicher in sich selbst ruhte. Als ich mich unter dem Baum am Dorfplatz niederließ, kamen Männer, Frauen, Kinder sowie deren Hunde und begrüßten mich freudig, als hätten sie lange auf mich gewartet.
„Willkommen, Fremder! Willkommen im Dorfe des Friedhelm!“
Ich spürte die Wahrheit in ihrem Willkommensgruß und fragte mich, was diese Menschen im Herzen berührt haben könnte, um einem unbekannten Wanderer solche Herzlichkeit entgegenzubringen.
„Bewohner des Dorfes Friedhelm sagt, weshalb nehmt ihr mich mit solch offenen Armen auf?“
„Das, Wanderer, war der Wille unseres Lehnsherren, Friedhelm vom Waldberg, nach dem unser Dorf benannt wurde. Wir haben gelobt, in seinem Sinne als freie Bürger zu leben.“
„Lasst mich verstehen, freie Bürger des Dorfes Friedhelm, was es damit auf sich hat“, forderte ich sie verwundert auf.
„Wanderer, wir können dir nur die Überlieferung erzählen, so, wie wir sie erzählt bekamen.“
„Das ist gut genug für mich“, antwortete ich dem Sprecher, einem Mann in den besten Jahren, mit Augen so silbergrau wie der klarste Bergbach.
„Nun denn, Wanderer, dann höre die Geschichte unseres Lehnsherren. Aber zuerst: Frau, gebt dem Wanderer etwas von der Suppe, er muss hungrig sein. Und du, (er zeigte auf einen jungen Burschen) mach ein Feuer an. Kinder, ihr kennt die Geschichte. Geht ins Haus, nehmt die Hunde mit. Eure Zeit kommt noch, in der ihr unsere Überlieferung an Wanderer weitergebt!“
Ohne Murren geschah, was von dem Mann in den besten Jahren verlangt wurde. (Wenig später erfuhr ich, dass er der Dorfsprecher war, derjenige, der die Geschichte des Dorfes Friedhelm an Wanderer, so wie ich es einer bin, weiterzugeben hatte.)
Ich verzehrte eine köstliche Hühnerbrühe, wärmte mich am Feuer und schaute in die Gesichter der Dörfler, die gespannt den Sprecher anschauten. Wie Kinder waren sie, die eine Geschichte immer und immer wieder hören wollten.
„Wanderer, dies ist die Geschichte unseres Herren, Friedhelm vom Waldberg, so wie sie sich zugetragen hat, als mein Großvater noch lebte und meine Großmutter die Amme des Kindes vom Waldberg war“, begann der Dorfsprecher würdevoll.
„Der Vater unseres Herren hieß Gregor vom Waldberg. Er freite eine wunderschöne Frau, Felicia hieß sie, und zeugte mit ihr im ersten Jahr ihrer Gemeinschaft einen Sohn, den er nach seinem Namen Gregor nannte. Voll Glückes war er, er hatte einen Erben! Gregor der ältere und Gregor der Jüngere. Beide waren nicht zu trennen. Vom ersten Tage an vergötterte Gregor der Ältere seinen Sohn, Gregor den Jüngeren.
In den Folgejahren gebar Felicia fünf Totgeburten, drei Söhne, zwei Töchter. Das siebte Kind ward wieder ein Sohn, dieser blieb am Leben. Felicia war jedoch zu schwach, um den Jungen zu nähren, und so kam meine Großmutter zu unserem Herren. Sie wurde seine Amme. Friedhelm war ein zarter Junge, zerbrechlich sah er wohl aus. Aber er blieb am Leben. Die Milch meiner Großmutter hielt ihn auf dieser Erde. Meine Großmutter erzählte uns Kindern: „Friedhelm hatte Augen, einem Engel gleich. Wenn er mich anschaute, konnte ich nichts weiter als tiefste Liebe zu diesem Kind empfinden“.
Die Jahre vergingen.
Gregor war der Stolz seines Vaters. Mutig, nein tollkühn schon, trieb er sein Pferd über Hindernisse im Wege, war er der Anführer bei Sauhatzen, war er der Erste, wenn es galt, einen Wolf zu erlegen oder ein Feuer zu bekämpfen. Gregor war ein Held, ein wahrer Herrscher, ein würdiger Nachfolger von Gregor dem Älteren, ein mutiger Mann!
Als Gregor 18 Lenze alt war, stürzte Gregor der Ältere vom Pferd. Der graue Schatten holte ihn noch in der selben Nacht. Gregor dem Jüngeren oblag nun die Verantwortung für das Land und die Leute auf dem Land. Felicia war dem Wahnsinn nahe, da sie den Mann, den sie mit Inbrunst geliebt hatte, Vater ihrer Kinder, durch einen Sturz vom Pferde von jetzt auf gleich verlor.
„Mama, ich brauche euch“, vernahm sie eine leise Stimme, und ein zartes Händchen legte sich in ihre Hand. Friedhelm schmiegte sich an seine Mutter, umfasste sie mit seinen zarten Händen. Tiefblaue Augen hatte dieses Kind. „Tiefblaue Augen, die einen in Abgründe entführen und im Himmel ankommen lassen“, pflegte meine Großmutter zu sagen.
Und Mama Felicia lebte ihres jüngeren Sohnes wegen weiter. Aber sie verkroch sich in ihr Inneres, nur noch erreichbar über Friedhelm.

Morgen, meine Freunde, erzähle ich euch weiter, von Gregor, Felicia und Friedhelm“, wollte ich für diesen Abend schließen.

„Nein Alter, so schickst du uns nicht weg vom Feuer“, kam der empörte Einwurf einer jungen Frau. „Was bezweckst du mit der Geschichte? Ist es nicht besser, das hier und jetzt zu leben, wie du selbst in deiner Geschichte vom Zimmermann erzählt hast? Wolf macht sich keine Gedanken um morgen und gestern. Er folgt dir. Er frisst. Er friert. Heute ist er am Baum gefesselt. Morgen ist er glücklich mit dir. Was also willst du mit dieser Geschichte? Sollen wir Trauer nicht leben? Sollen wir Freude nicht leben? Trauer und Freude liegen nah beieinander! Sie beide sind eins: Gefühl, euphorisches Gefühl. Gefühl, Weinen, Lachen—aus welchem Grund auch immer—und vor allem lieben. Denn nur so kann es Trauer und Glück überhaupt geben“, erhitzte sie sich.

Ich schaute in ihre funkelnden Augen.
„Wenn du dich fragst, was ich mit dieser Geschichte bezwecke, dann hat diese Geschichte ihren Zweck schon erfüllt. Lass mich eine Erklärung versuchen. Diese Geschichte bildet einen Kreis:
Über die Liebe
Über die Liebe, über Wunder
Über Angst und Mut und nochmals
Über die Liebe
Deine Frage, vor kurzer Zeit erst ausgesprochen,  ist schon Vergangenheit. Wenn du meine Antwort hörst, ist sie schon Vergangenheit. Doch mit jedem Augenblick der Vergangenheit gestaltest du deine Gegenwart. Sie wird gestaltet durch deine eigene Wahrnehmung dessen, was gerade um dich herum geschieht und wie du dieses Geschehen bewertest.

Die Wahrnehmung und deren Bewertung haben jedoch so viele Facetten wie es Menschen auf dieser Erde gibt. Nimm zwei Menschen, lass sie den selben Gegenstand betrachten, jeder sieht ihn leicht anders oder gar ganz anders. Dies liegt in der Natur des Menschen. Selbst wenn sie ihn gleich wahrnehmen würden, könnten sie trotzdem zu einer unterschiedlichen Bewertung kommen. Wenn du auf Menschen triffst, die ihre eigene Wahrnehmung für die absolute Wahrheit halten, so führt dies zu Streit oder Schlimmerem.

Du hast zum Beispiel meine Geschichte so gehört, als verfolge sie einen Zweck. Du hast Recht, ich verfolge einen Zweck.
„Erzähle über die Angst, Geschichtenerzähler“, meintet ihr.
 Eine Geschichte über die Angst zu erzählen ist nicht schwer. Angst wohnt jedem Lebewesen. Das Spiel mit der Angst findest du überall. Was gefährlich erscheint, wird verboten oder gar getötet. Denke an die Hexenverfolgung oder denke an die Wolfsjagden. Was fremd ist, nicht dem Üblichen entspricht oder gefährlich erscheint, wird meist mit Angst belegt. Der Anschein genügt, damit der Scheiterhaufen brennt, gleichgültig für welche Kreatur Gottes. Sobald die Angst regiert, entsteht Bedürfnis nach Schutz. Wenn die Angst regiert, versagt der Verstand. Ausgeliefert an das Gefühl der Angst werden sinnlose, widernatürliche Entscheidungen getroffen. Wild wird um sich geschlagen: „Hinweg, weg damit! Rotte es aus, damit ich keine Angst mehr habe!“
Es ist jedoch einfach zu unterscheiden, ob du aus Angst oder aus Liebe handelst. Beginne dich zu fragen, was der Anschein ist, schaue hinter den Schein.
Ich wollte es damit bewenden lassen, doch ihr Schweigen und ihre fragenden Augen veranlassten mich, noch mehr zu sagen.
“Wenn du mich fragst: „Sollen wir Trauer nicht leben? Sollen wir Freude nicht leben“, dann frage dich selbst: „Will ich Trauer leben? Will ich Freude leben?“ Du willst starke Gefühle erleben—bedenke dann auch, dass es Menschen gibt, die vor starken Gefühlen Angst haben.

Ich erzähle diese Geschichte so, wie ein Maler ein Bild malt.
Meine erste Geschichte über die Liebe ist die Leinwand, mit der zweiten und dritten Geschichte füge ich Formen und Farben hinzu, und mit der letzten Geschichte vollende ich das Bild. Der einzelne Betrachter des Bildes findet Dinge, die ihm gefallen oder nicht gefallen, ihn berühren oder nicht berühren, Dinge, die er im Herzen ebenso fühlt oder Dinge, die er im Herzen ablehnt. Ein Bild, dessen Schönheit im Auge des Betrachters liegt. Für den einen ist es Schund, für den anderen Schönheit. Da alles richtig ist, wie es ist, schließt sich der Kreis. Die Hand setzt an, einen weiteren zu zeichnen.
Aber nun, meine Schöne, gehe ich wirklich schlafen. Morgen erfährst du mehr, über dieses erzählte Bild.“

Ich rief Wolf und wie immer folgte mir mein treuer Gefährte an unser Lager.

Über die Liebe, über Wunder