Jemand zu Hause

Anybody home?
(c) Rosemarie Wiedmann

Es gibt Häuser, die haben leblose Räume, wie zum Beispiel im Haus meiner Mutter.

Als Vater noch lebte war alles ganz anders. Mutter war so lebhaft und fröhlich. Ich glaube, die beiden haben sich auch noch nach 40 Jahren Ehe geliebt. Zumindest waren sie Freunde! Als er vor fünfzehn Jahren nicht nach Hause kam, verlor sie ihr Lachen. "Herzinfarkt", hieß es. Mit ihrem Lachen verschwand auch die Freude am Leben und am Haus.
"Das Haus ist viel zu groß für mich, jetzt, wo ihr Kinder nicht mehr da seid." Eigentlich war es schon viel zu groß, als Vater noch lebte. Doch über seinen Tod kann sie nicht reden. Also ist das Haus eben viel zu groß, seitdem wir Kinder dort nicht mehr wohnen.
"Vermiete doch eine Wohnung, Mutter", haben Paul und ich ihr immer wieder gesagt." Dann bist du nicht mehr allein im Haus!"
"Nein, nein. Das möchte ich nicht. Dann muss ich Rücksicht nehmen auf Mieter und dafür bin ich zu alt."
Mutter hat selten wirklich das gesagt, was sie meinte. Doch wir haben gelernt, sie auch so zu verstehen. Sie wollte nicht, dass "fremde Menschen" Räume bewohnen, die mit ihren Erinnerungen gefüllt waren. In ihren Erinnerungen lebte Vater noch und wir Kinder rannten die Treppen rauf und runter und spielten im ganzen Haus Verstecken.

Als ich auf einer Geschäftsreise in der Nähe war, hatte ich nachmittags noch unverplante Zeit. Mir kam der Gedanke, dass ich doch Mutter ein Stündchen besuchen könnte. Ich wollte sie überraschen und kündigte deshalb meinen Besuch nicht an. Ich klingelte und sah durch die Scheiben der Milchglastür, wie sich ein Umriss auf die Tür zu bewegte. "Ja, wer ist da?", fragte sie und schloss die Tür auf. Sie blinzelte, griff nach ihrer Brille und meinte: "Ach, du bist das. Sieht man dich auch 'mal wieder!" Oh Mutter, dachte ich, kannst du denn diese Bemerkung nicht lassen! "Ja, ich bin es. Darf ich hereinkommen?", sagte ich stattdessen.
"Wenn du schon mal da bist, dann kannst auch hereinkommen", meinte sie trocken, drehte sich um und rief im Weggehen "Schließ die Haustüre wieder ab!"

Vielleicht sollte ich sie ja doch öfters besuchen. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie klein sie geworden war. Sie ging ins Wohnzimmer und setzte sich auf die Couch, von der ich sie wohl durch mein Klingeln aufgeschreckt hatte. "Ich war etwas eingenickt", meinte sie und deutete entschuldigend auf die Wolldecke, die achtlos zur Seite geschoben neben ihr lag. Sie nahm sie und legte akribisch Ecke auf Ecke, schaute mich kurz an und meinte, während sie weiterhin die Decke zusammenlegte: "Wie kommt es, daß du hier bist? Ist etwas passiert? Geht es den Kindern gut? Oder ist etwas mit deiner Frau? Brauchst du irgendetwas?"
"Es ist alles in Ordnung, Mutter. Ich habe eine Besprechung in der Stadt und wollte dich einfach besuchen. Freust du dich denn nicht?", fragte ich sie mit einem leicht gereizten Unterton in der Stimme.
"Doch, natürlich. Doch, doch, ich freu' mich. Ich bin nur so überrascht. Möchtest du einen Kaffee?", fragte sie sofort, um keine Pause aufkommen zu lassen, "Oder vielleicht ein Gläschen Wein? Ich hol' es dir gerne", meinte sie und stand auf um mich zu bedienen, als wäre ich ein Gast.

"Danke, eine Tasse Kaffee wäre schön. Ich komm mit in die Küche."
"Magst du nicht lieber ein Gläschen Wein? Ich weiß gar nicht, ob ich noch Kaffee im Haus habe. Du magst doch keinen Nescafé. Ich trinke jetzt lieber Tee, der bekommt meinem Magen besser. Weißt du, vom Kaffee bekomme ich immer so einen Druck auf den Magen und dann bekomme ich Migräne. Mir ist es heute auch gar nicht so gut." Sie drückte beide Hände auf den Magen und machte ein leises Kopperchen, das sie peinlich berührte.

"Mama, nun setz dich bitte wieder hin. Ich brauche keinen Kaffee und auch keinen Wein. Ich möchte einfach eine Weile mit dir reden und hören, wie es dir geht.
"Mir geht es gut", und nach einer kurzen Pause sagte sie mit zittriger Stimme: "Das hast du schon lange nicht mehr gesagt!"
"Was", fragte ich verdutzt.
"Mama!"
Ich schwieg betroffen.
"Weißt du, du wirkst immer so kühl auf mich, wenn du mit Nina und den Kindern kommst. Ich habe immer das Gefühl, dass es dir irgendwie peinlich ist oder ich dir lästig bin. Es ist schön, dass du heute alleine gekommen bist", lächelte sie und tätschelte dabei mehrfach meine Hand. "Es ist eben etwas anderes. Für mich! Verstehst du das?"

In dem Moment verstand ich es nicht aber ich hatte auch keine Lust, ihr zu widersprechen. Ich nickte nur und sie fasste es als Bestätigung auf.

"Mama, ich habe Lust, in mein Kinderzimmer zu gehen. Kommst du mit nach oben?", lenkte ich ab. "Ja, aber da müssen wir erst die Schlüssel holen. Ich habe sie in der Kommode, im oberen Fach." Schon wieder eine Frage, die ich nicht aussprach. Wieso schließt sie die Zimmer ab?
"Du wunderst dich sicher, weshalb ich oben abgeschlossen habe", meinte sie, "aber du kennst doch noch die Erna, die mir immer beim Putzen geholfen hat. Und die ist vor zwei Jahren gestorben. Sie war ja viel jünger als ich, bestimmt 10 oder 15 Jahre. Die Erna ist ganz friedlich eingeschlafen. Ging abends ins Bett und wachte nimmer auf. So will ich auch mal sterben. Das ist ein schöner Tod. Weißt du, ich habe keine Angst vor 'm Sterben. Ich will nur nicht leiden müssen."
"Das kann ich verstehen", meinte ich. "Aber weshalb schließt du die Zimmer ab?"
"Ja das will ich dir doch gerade sagen! Also, als die Erna gestorben war, da brauchte ich doch wieder jemand. Ich bin nicht mehr die Jüngste und die schweren Arbeiten fallen mir schwer. Wenn ich das Bad geputzt habe, war ich immer ganz erschöpft. Und da habe ich eine Annonce aufgegeben und eine Hilfe gesucht. Da haben sich so viele Leute gemeldet. Stell dir vor, da waren auch Männer dabei! Aber das wollte ich dann doch nicht. Ich hab dann eine Russin genommen, die kann aber nur 5 Stunden in der Woche kommen. Fünf Stunden! In fünf Stunden kann die doch nicht das ganze Haus machen! Deshalb habe ich gesagt, sie soll nur meine Wohnung machen und wir schließen oben ab. Sie hat mir geholfen, die alten Leintücher nach oben zu tragen und wir haben alles schön abgedeckt! Nun komm aber! Lass uns nach oben gehen, ich war schon lange nicht mehr oben. Das Treppensteigen fällt mir schwer."

War ich denn wirklich zwei Jahre nicht mehr bei ihr gewesen? Kann das sein? Das war doch an Weihnachten, da haben wir sie doch besucht. Nein, letztes Weihnachten waren wir Langlaufen. Und das Jahr zuvor...oh Mist, da waren wir in Florida, weil ich dort sowieso am 2. Januar einen Termin hatte. Aber an ihrem 80. Geburtstag, da waren wir alle da. "Mama, wie alt wirst du jetzt eigentlich? 72 oder 73?", fragte ich wie im Scherz.
"Du Schmeichler! Du weißt doch genau, dass ich dieses Jahr 84 werde. Nächstes Jahr wird wieder gefeiert! Da kommst du und Paul und die Enkel und wir gehen alle ganz nobel aus in den Hirsch. Und die Rechnung bezahle ich, dass das klar ist. Und zu meinem 90sten laden wir alle ein, die von meinem Jahrgang noch leben!"
"Das machen wir, Mama!", sagte ich ebenso bekräftigend als auch schuldbewußt. Fast vier Jahre also. Ich fasste einen Entschluß. Das Geschäftsessen findet auch ohne mich statt. Wegen dringender Familienangelegenheiten bin ich verhindert.

"Lass uns mit dem Hirsch nicht bis zu deinem 85sten Geburtstag warten. Was hältst du davon, wenn du dich jetzt schön machst und mit deinem Sohn ganz nobel Essen gehst?"
"Jetzt? Heute? Hast du denn Zeit?"
"Ja, einfach nur Zeit für dich, ohne alle anderen um uns herum. Und während du dich richtest, setze ich mich in mein Kinderzimmer und erinnere mich an meine Kindheit. Einverstanden?"
"Hand drauf", meinte sie, "persönlich reden ist doch viel schöner, als nur zu telefonieren."

Ja, und deshalb weiß ich, dass ein Haus leblose Räume haben kann. An jenem Nachmittag in meinem Kinderzimmer fühlte ich, wie sich Räume nach Leben sehnen.

Wir waren übrigens auch zu ihrem 84sten Geburtstag im Hirsch, und die nächsten vier Jahre ebenso. Und nicht nur an ihren Geburtstagen. Anfangs war Nina etwas pikiert, dass ich begann, meine Mutter häufiger zu besuchen. Dann wollten meine Kinder auch mal zu Oma mitkommen, "denn sie hat ja Platz genug für uns alle und der Garten ist ja so ein schöner Märchengarten." Sogar Paul kam mit zu den Geburtstagen. Er meinte zu mir: "Ich versteh deine plötzlich wiedergefunde Zuneigung zu Mutter nicht. Das Telefonieren mit ihr ist schon ein Mühsal--nichts versteht sie! Willst sie wohl beerben, was? Dann werd' mal glücklich mit dem alten Schuppen!" Paul hatte wie ich nichts verstanden. Dass es schwer ist, mit Hörgeräten zu telefonieren, hat sie mir an jenem Abend im Hirsch gesagt, als ich sie unverhofft besucht hatte.

Ja, und Paul hatte recht. Mama hat mir das Haus vermacht. Alle Zimmer sind wieder mit Leben erfüllt. Mit unserem Leben.