Von der stolzen Tanne

Vor langer, langer Zeit lebte einmal in einem wunderschönen Tal ein Tannenmütterchen mit seinen vielen hundert Kinderchen. Als Tannenmütterchen alt wurde und es zum Sterben ging, da rief es alle seine Kinderchen zu sich und sagte: „Kinderchen,“ sagte es, „haltet immer hübsch zusammen und vertragt euch miteinander; Einigkeit macht stark! Und bleibt immer hübsch bescheiden; denn Hochmut kommt vor dem Fall!“

Das versprachen die Tannenkinderchen auch. Und als Tannenmütterchen gestorben war, da wohnten sie alle zusammen friedlich und fröhlich und ganz dicht beieinander. Freilich, je größer sie wurden, um so knapper wurde der Raum, um so spärlicher die Nahrung, um so mehr mußten sie sich recken und strecken, wenn sie einen Sonnenstrahl erhaschen wollten. Aber sie hielten treu zusammen, und abends, wenn der Abendwind wehte, dann steckten sie ihre Köpfchen zusammen und erzählten sich leise, was sie am Tage erlebt und erlauscht hatten.

Nur eine von ihren Schwestern hatte Tannenmütterchens Ratschläge schnell vergessen. Unter den vielen Geschwistern gefiels ihr nicht; da konnte sie sich gar nicht breit machen, da mußte sie sich nach allen anderen richten und mußte sich rücken und ducken. Das paßte ihr nicht. Da wars doch da draußen viel lustiger und schöner So hatte sie für sich ganz allein oben am Berge ein Plätzchen gesucht; ei, wie da die Sonne warm schien, wie sie da sich strecken und sich dehnen konnte, wie sie da weit ins Land schauen und über ihre Schwestern hinwegsehen konnte!

Und wirklich, sie wurde die schönste Tanne im ganzen Lande; hoch und schlank war sie gewachsen; ihre Arme breitete sie wie zum Segen nach allen Seiten aus, ihr grünes Kleid schleppte beinahe bis auf die Erde, und alle Menschen bewunderten sie und freuten sich ihrer Schönheit, und sie selbst sah stolz im Wasserspiegel zu ihren Füßen ihr Bild.

Ob ihre Schwestern und Brüder nicht neidisch zu ihr aufblickten? ...

Da kam ins Land ein böser, böser Gast, das war der Riese Herbst mit seinen Dienern Sturm und Wetter. Der fuhr auf seinem schnaubenden, schweißtriefenden Wolkenroß durch das Land, und wehe, wer sich ihm trotzig widersetzte, den schlug er mit eiserner Faust nieder und warf ihn in den Staub. Nun kam er auf seinem wilden Ritt auch zu dem Bergtal, in dem die Tannengeschwister wohnten. Hu, wie er fauchte und drohte! Wütend stürzte er sich auf die Tannengeschwister. Ängstlich duckten sie die Köpfe und schmiegten sich dicht aneinander, ächzend und stöhnend bogen sie sich unter seinen Streichen—aber sie hielten ihnen tapfer Stand, denn eins schütze und stützte das andere, und die draußen am Wiesenrande standen, die breiteten ihre starken Arme wie zum Schutz vor ihre Geschwister—da mußte der böse Riese Herbst polternd weiterziehen. Oh weh, wie sahen sie aus? Zerzaust und zerrissen waren ihre Kleider, die einen hatten ihren Arm gebrochen und die anderen hatten sich kaum noch auf den Füßen halten können. Aber sie waren doch alle mit dem Leben davongekommen, denn sie hatten treulich zusammengehalten.

Wie sie sich von ihrer Angst erholt hatten, da sahen sie sich nach ihrer Schwester um—aber welch ein Schreck fuhr da in ihre Glieder! Da lag die stolze Tanne am Boden mit ihrer ganzen schönen Pracht. Des Riesen Diener Sturm hatte sie gepackt und ein leichtes Spiel gehabt—denn sie hatte niemanden, der sie schützte. Die Tannengeschwister aber flüsterten sich leise zu: „Arme Schwester, wärst du bei uns geblieben, wir hätten die gehalten. Warum warst du zu stolz dazu?“—