ie Geschichte vom Zimmermann

So ist es am Anfang in jedem Dorf. Erst kommen die Kinder, dann kommen die Mütter aus Angst um die Kinder. Die Männer kommen zögerlich, erst Einer, dann ein Zweiter, dann ein Dutzend oder mehr. Immer sind es die Männer, die kein Ende finden. Die Frauen gehen zurück ins Haus, kümmern sich um die Kinder. Die Männer suchen Holz und machen Feuer. Die Nachtluft in unserer Gegend ist meist kühl. Ja, so ist es. Die Männer haben den meisten Hunger nach Geschichten. Als uns das Feuer seine Wärme schenkte, begann ich meine Erzählung.

„Heute erzähle ich euch die Geschichte vom Zimmermann. Wolf und ich wanderten abseits der großen Wege, gingen langsam und gleichmäßig durch die Sommerlandschaft. Der gleichmäßige Trott ist das Geheimnis unserer Ausdauer. So können wir große Strecken ohne frühzeitige Ermüdung zurücklegen. Es war ein schöner Tag, die Luft roch reich nach Gräsern, nach Getreide bereit für die Sichel, sie roch nach Überfluss. Wir kamen an einem Bachbett vorbei, das genügend klares Wasser für uns beide bot. Ich setzte mich an einen Baum, lehnte mich an, zog die Beine an und schaute dem Bächlein zu. Es zog mich ganz in seinen Bann. Wie durchscheinendes Silber glitt das Wasser über die Steine hinweg. Leichtigkeit und Kraft in perfekter Harmonie.
Ich erwachte durch den Klang von Münzen. Leicht benommen bemerkte ich drei Münzen in meiner Mütze, die wohl zu Boden gefallen war. Ich kreiste mit meinem Kopf von links nach rechts, um das steife Gefühl aus meinem Nacken zu vertreiben.
„Hee Alter! Das ist für dich und deinen Hund!“
„Danke, Herr, aber ich bettle nicht mehr. Wenn ihr mir etwas geben wollt, dann erzähl ich euch eine Geschichte.“
„Lass mal gut sein, Alter. Für Geschichten bin ich nicht mehr jung genug und noch nicht alt genug. Geschichten sind für Frauen und Kinder, oder aber Alte, so wie dich. Ich muss weiter, muss eine Stelle antreten in der Stadt. Sie bauen dort einen Dom. Ich wollte schon immer mal an einem Dom mitbauen.“
Er lachte mich an, zog seinen Hut und machte einen übermütigen Kratzfuß vor Wolf. Vor sich hin summend ging er weiter. (Auch er kannte den gemächlichen Trott.)
Nach einigen Tagen ging unser Vorrat an Dörrfleisch und Brot zu Ende. „Einen Dom wollen sie bauen. So so. Wolf, hast du schon einen Dom gesehen?“
Städte sind anders als Dörfer. Viel mehr Menschen. Keiner hat Zeit für Geschichten. Hier wollten wir nicht bleiben. Der Dom! Ja, den wollten wir noch sehen. Gewaltig, wie ein Riese schien er. Noch unfertig strahlte er schon seine Macht über den ganzen Domplatz. Wolf stieß mich mit seiner Schnauze an. „Lass uns gehen, Alter“, forderte er mich auf. Wir wollten uns gerade auf den Weg machen, als mich ein entsetzter Aufschrei inne halten ließ. Einer der Handwerksleute am Dom war abgestürzt.
„Der ist nicht mehr zu retten. Den holt unser Herrgott“,  hörten wir die Menschen sagen. Ich bahnte mir einen Weg durch die Gaffer und blickte in das fahle, vom Todesengel gezeichnete Gesicht des Zimmermannes. Unsere Augen trafen sich.
„Du schuldest mir noch eine Geschichte, Alter, drei Münzen wert“, sagte er kaum vernehmbar.
Ich kniete mich nieder und beugte mich zu seinem Ohr.
„Auf der anderen Seite des Regenbogens ist der Ursprung jeglichen Seins, das Eins. Deine Wünsche, alles was dein Herz jemals ersehnt hat, alles geht in Erfüllung. Du weißt in diesem Land, wer du bist. Du weißt wieder alles. Du verstehst wieder alles. Segne mich von dort, Zimmermann“.
Der Zimmermann schloss die Augen und wurde ruhig.
„Drei Münzen wert“, flüsterte er und lächelte in seinen letzten ruhigen Atemzug hinein.

Betroffenes Schweigen erfüllte die Menschen um das Feuer. „Wieso erzählst du uns so eine traurige Geschichte, Alter?“
Ich schaute ihn an. Ein junger Mann noch. Die gebeugte Haltung und seine schwieligen Hände erzählen von einem kargen Leben.
„Die Geschichte ist traurig, wenn du den Tod als Ende des Seins siehst. Sterben ist jedoch nicht schlimm für den, der geht. Ein Sterbender kehrt als Licht zum Licht zurück, er kehrt zurück ins Eins. Der Tod ist jedoch schlimm für diejenigen, die er zurücklässt, selbst dann, wenn diese den festen Glauben haben an das Weiterleben nach dem Tode. Es ist der eigene Verlust, der uns Menschen Angst macht vor dem Tod. Denn wer von uns hat niemals den Schmerz erfahren, einen geliebten Menschen zu verlieren? Wer von uns kennt nicht die Frage an Gott, „Warum, Herr, hast du mir mein Liebstes genommen?“ Das Warum kann niemand beantworten, nicht in dieser Welt.
Da jeder von uns diesen Weg eines Tages gehen wird, kannst du den Tod auch zu deinem Freund machen. Fürchte weder ihn,  noch fürchte die Zeit. Lebe dein Leben jetzt, lebe es weder in der Erinnerung an Vergangenes noch lebe es in Erwartung an die Zukunft. Der nächste Tag läuft meist anders, als du ihn geplant hast.“

Bei diesem letzten Satz hatte ich die Lacher auf meiner Seite. „Das stimmt, das passiert mir häufig. Ich nehme mir fest vor, morgen etwas zu tun und dann läuft es anders“, sagte ein älterer Mann.
„Was meinst du damit, mein Leben jetzt zu leben, Alter“, fragte ein anderer.
„Sei dir dessen bewusst, was du gerade jetzt tust. Wenn du zum Beispiel deinen Acker bestellst, dann sei mit deinem ganzen Herzen dabei und denke nicht darüber nach, was du tun musst, wenn du fertig bist mit Acker bestellen. Sieh die Schönheit des Augenblicks. Nimm deine Umgebung wahr, den Wind, der dir den Geruch der umgegrabenen Erde in die Nase trägt, hebe den Feldspat auf und betrachte diesen Stein, den du sonst knurrig auf einen Haufen wirfst. Sieh die Schönheit, die gerade dieser einfache Stein besitzt, sei ehrfürchtig, denn er ist ein altes Kind Gottes, viel älter, als wir alle zusammen genommen.  Du kannst ihn ja fragen, weshalb gerade auf deinem Feld so viele von ihm sind“, lächelte ich ihn an, „vielleicht gibt er dir eine Antwort“.