Der 13. Monat

Als die Menschen begannen, die Zeit auf diesem Planeten einzuführen, begann damit auch die Zeit, alles kategorisierten zu wollen. Anfangs war es ein grobes Raster, das sich nur am Ablauf der Natur orientierte. Es gab die Zeit des weißen Gottes, die Zeit der grünen Mutter, die, des Herrschers der Sonne und die, der Göttin der Erde, welche die Ernte bescherte.

Je älter die Menschheit wurde, desto enger webte sie das Netz der Zeit. Gott/Göttin wurden aufgeteilt in Monde, die Monde in Tage, die Tage in Stunden et cetera et cetera, doch das kam viel später.

Das Jahr wurde weit vor Christi Geburt in 13 Monde unterteilt, denn der Mond erschien dreizehn mal, ehe die Zeit der grünen Mutter wieder begann. Jedem der 13 Monde wurde ein Name gegeben, beginnend mit dem März als ersten Monat und endend mit dem Radianten, dem 13. und letzten Monat im Zyklus. Lange wurde diese Einteilung nur zwischen den Eingeweihten debattiert und es wurde strengstens darauf geachtet, dass dieses Wissen um den Zusammenhang der Zyklen der Natur mit dem Lauf des Mondes nicht verbreitet wurde. Denn ihr müsst wissen, die 13 war eine heilige Zahl, die erst nach dem letzten Abendmal mit Unheil belegt wurde. Als die Weisen die Monde benannten, war der Prophet und dessen letztes Abendmal noch in weiter Ferne.  

Dreihundert mal 13 Monde behielten die Eingeweihten dieses Wissen für sich. Doch immer mehr Denker und Philosophen beschäftigten sich in dieser langen Zeit mit dem Lauf des Mondes und den Zyklen der Natur und gar aberwitzige Spekulationen wurden aufgestellt. Es wurde sogar behauptet, der Mond würde nur 12 mal erscheinen, bis im März die grüne Zeit begänne. Da sich dies nach drei vollen Zyklen als nicht haltbar erwies, wurden flux ein paar heilige Tage als Brücke eingeschoben, die keinem der 12 Monate zugeordnet wurden. Heftigste Diskussionen entbrannten unter den Eingeweihten, ob und wie man den Irrtum korrigieren solle oder könne, ohne den Radianten preis zu geben. Erschwerend kam hinzu, dass die Astronomen im Laufe der Zeit den 12 Monaten Sternenbilder zugeordnet hatten. Selbstverständlich hatte auch der Radiant ein Sternenbild, dessen Entdeckung einst für große Erheiterung unter den Brüdern geführt hatte.

Bruder Theo hatte sein ganzes Leben den Himmel abgesucht, um für den Radianten das passende Sternenbild zu finden. Nichts schien ihm gut genug, um dem Strahlenden gerecht zu werden. Als sein Leben sich langsam seinem Ende näherte hatte er akzeptiert, dass es wohl nicht seine Bestimmung sein sollte, ein Sternenbild für den Weißen, den Strahlenden zu finden. Dennoch suchte er weiter, jedoch nicht mehr getrieben vom Ehrgeiz, sondern nur noch vom Staunen über die Schönheit der Sterne. "Was ist denn das", lachte er an einem dieser glasklaren Nächte, die den heftigen Sommergewittern folgten. "Das sieht aus, als wäre ein Igel am Himmel!" Unzählige weiße Punkte bildeten ein Halbrund, das nach rechts lichter wurde, als bildete es einen kleinen Kopf mit einer Schnauze. "Das ist ein Igel, eindeutig ein Igel! Weshalb habe ich das nicht schon früher entdeckt? Ich hätte wohl schon eher mit den Augen eines Kindes den Himmel betrachten sollen", rief er laut aus. Er raffte seine Kutte und rannte die Treppenstufen vom Turm hinunter in den großen Versammlungssaal, in dem er niemanden mehr antraf. Er musste seine Entdeckung verkünden, wer weiß, ob sie morgen noch da wäre. So nahm er den großen Gong und schlug ihn drei mal.  

"Wo brennt es", riefen die Brüder, die sich im Laufen noch die Gewänder überzogen. "Wo ist das Feuer? Holt Wasser, schnell“, rief der Erste der Gemeinschaft.
Theo schlug noch einmal den Gong, der die Brüder jäh innehalten lies.
"Haltet ein, Brüder, nicht die Erde brennt, der Himmel leuchtet! Wir haben ein Sternenbild für den Radianten gefunden. Schnell, kommt mit auf den Turm!"
"Bruder Theo", hörte er empörte Rufe, "deshalb schlägst du den Gong? Kann das nicht warten?"
"Es kann nicht warten. Kommt mit und seht, was ich gefunden habe. Morgen ist es vielleicht zu spät!"
Theo und seine zwölf Brüder machten sich allesamt auf den Weg zum Turm. Ich erwähnte schon vorher, dass 13 eine heilige Zahl sei. Deswegen besteht auch jede Gruppe der Eingeweihten aus 13 Brüdern.


"Berührt bitte nichts, fasst nichts an, verstellt mir nicht die Position, haltet nur ein Auge an die Öffnung", ermahnte Theo die nun wachen und neugierig gewordenen Brüder.  

"Ich sehe nur einen Haufen heller Sterne", sagte der Erste.

"Ja! Ja das ist es. Nun schau etwas nach rechts. Siehst du den Kopf", rief Theo freudig aus.

"Bei der grünen Mutter, das sieht ja aus wie ein Igel", rief nun der Erste aus. "Meinst du das, Bruder Theo?" Er wandte sich Theo zu und machte Platz für die anderen Brüder, die, da der Erste den Igel gesehen hatte, auch alle meinten, den Igel zu sehen - auch wenn sich der eine oder andere fragte, wo denn hier ein Igel zu sehen sei. Auch eine Gemeinschaft der Auserwählten ist eben nicht frei von Heuchlern.  

"Theo, was ist besonderes an diesem Sternenhaufen, der wie ein Igel aussieht, der nach rechts läuft?"

"Es ist das Sternenbild des Radianten", rief Theo triumphierend aus. Der Erste konnte sich nicht halten und brach in schallendes Gelächter aus, in das die anderen Brüder erleichtert einstimmten.

"Der große Igel", lachte der Erste, "Bruder Theo, du hast dir einen Scherz mit uns erlaubt!"

Doch Theo antwortete ernsthaft auf diesen Spott.

"Was ist der Radiant, der Strahlende", fragte er. "Er ist weiß. Er beinhaltet alle Farben. Er beinhaltet Glück und Leid, Frieden und Kampf, Weichheit und Kraft, er beinhaltet alles, was ist. Was ist ein Igel? Rollt er sich zusammen, ist er rund wie eine Kugel, dann hat er Stacheln und stellt sich seinen Feinden und dem Kampf. Lässt du ihn seines Weges ziehen, gleicht seine Oberfläche einem glänzenden Fell und seine klugen Augen scheinen die Weisheit in sich zu tragen. Legst du ihn auf den Rücken, ist er weich und verletzlich. Beinhaltet ein Igel nicht alle Seiten unseres Menschseins", fragte er in die Runde.

Das Lachen war verstummt und Betroffenheit breitete sich aus.
"Bruder Theo, deine Weisheit ist von den Göttern gegeben. Der Radiant steht unter dem Zeichen des Igels, der wie der Strahlende Kraft und Sanftmut in sich trägt. Du hast weise gewählt", lobte ihn der Erste.  

Es ging also nicht nur um die Preisgabe des Radianten, es ging auch um dessen Sternenbild, als darüber debattiert wurde, ob und wie man die Mär der 12 Monde korrigieren solle. Bruder Theo weilte zu diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr unter den Brüdern, auch die anderen Zwölf waren schon längst in die himmlischen Gefilden zurückgekehrt. Ein Bruder der damaligen Gruppe der Dreizehn war jedoch ein ähnlicher Querdenker wie einst Theo.

"Was wäre, wenn wir die Mär der 12 Monate unterstützten", hatte er gefragt. "Das wäre doch die Lösung! Wir müssen den Radianten nicht preisgeben und bewahren ihn und sein Sternbild als unser Wissen!"

"Wie könnten wir das erreichen", kam die verblüffte Frage eines Bruders.
"Wir teilen die Tage des Radianten auf seine Folgemonate auf." Er hielt kurz inne, um zu überlegen.

"Ja, so geht es. Wir nehmen zwei Blöcke mit dreizehn Zahlen, das macht 26 Tage. Die letzten drei geben wir dem Folgemonat."

"Ich verstehe nicht....", sagte einer der Brüder.

"Schaut, so geht es!"

Zufällig war dieser Bruder nicht nur Theo ähnlich, sondern hieß auch Theo (die Namen wurden weitergegeben.) Der junge Theo - wie ich ihn nenne -  ging in die Hocke und malte mit einer frisch vom Baum gefallenen unreifen Birne auf den Steinboden.

"Wir nehmen 3-2-3-2-3 Tage - also 13 - und verteilen sie entsprechend auf März, April, Mai, Juni und Juli. Das ergibt dann für März 31 Tage, auf April 30, auf Mai 31, auf Juni 30 und auf Juli 31 Tage. Dann nehmen wir wieder 3-2-3-2-3 Tage und verteilen sie auf den Monat August, auf den siebten Monat September, auf den achten Monat Oktober...." "Ja, wir haben es begriffen", unterbrach ihn der Erste. Doch was ist mit den verbleibenden drei Tagen?" ".........auf den neunten Monat November 2, auf den zehnten Monat Dezember 3 und auf den Januar die verbleibenden drei. Der Februar bleibt bei den ursprünglichen 28 Tagen und übernimmt die Rolle des Radianten, wenn wir alle vier Jahre einen Tag hinzufügen müssen", überging Theo den Einwand des Ersten und erklärte ihn gleichzeitig.  

"Und was ist mit dem großen Igel", fragte ein Bruder hilflos. "Wir können doch sein Sternbild nicht aufteilen!"

"Weshalb denn nicht", fragte der junge Theo zurück. Jeder Monat übernimmt entsprechend der Verteilung der Tage die Schwingung der Stacheln und die Weichheit des Igels. So beinhaltet jeder der 12 Monate die Schwingung des Radianten und die des großen Igels. Was meint ihr?"

Darüber wurde noch einmal 13 Monde debattiert, bis dann der Entschluß gefasst wurde, es genau so zu tun. Es war besser, ein schon - gedanklich - eingeführtes Weltbild zu erweitern als den geheiligten Radianten und sein Sternbild preiszugeben.

Im Jahr 54 vor Christus brachte Cäsar alles durcheinander. Er verlegte den Anfang eines Jahres auf den Januar, wodurch der September nicht mehr der siebte Monat war, sondern der Neunte und der Dezember gar der zwölfte. Die nachfolgenden Korrekturen des Kalenders waren weniger schwerwiegend, obwohl Papst Gregor nochmals eine heftige Korrektur vornahm. Der Kalender der Eingeweihten war leider in seiner Perfektion nicht von Anfang an übernommen worden. Doch so ist es meist auf dieser Welt. Wo etwas leicht sein könnte, wählen wir freudig den steinigen Weg.

Der 13. Monat ist nie in den Büchern erschienen, die Eingeweihten hatten ihr Geheimnis gut bewahrt. Obwohl heute niemand unter dem Radianten und im Zeichen des Igels geboren wird, tragen wir alle seine Merkmale in uns. Es war ein weiser Entschluss der Eingeweihten, Radiant und Igel auf alle Monde und alle Zeichen zu verteilen. Deshalb: wundere dich nicht, wenn du deine Stacheln stellst. Wundere dich nicht, wenn du deine verletzliche Weichheit preisgibst. Wundere dich auch nicht, dass dich ein Strahlen umgibt. Der Strahlende und sein Sternenbild leben in uns.


(c) Rosemarie Wiedmann