offnung

Der Schreiber schaute mich erwartungsvoll an. Wie jeden Abend saßen wir vor dem Feuer, und wie jeden Abend hatte er  uns Gewürzwein zubereitet. Nach einem Schluck, dessen wohlige Wärme ich bis in meinen Bauch verfolgte, begann ich  eine Geschichte über die Liebe und über die Hoffnung.

"Einst feierte ich das Christfest bei der Kräuterliesel, die mir  die Geschichte einer Frau erzählte, die Maria Magdalena hieß. Heute möchte ich sie dir erzählen:

Als Gott tausende von Jahren dem Treiben auf der Erde zugeschaut hatte, beschloss er, in die weitere Etwicklung der Menschheit einzugreifen. Wie seine Entscheidung ausfiel, das weißt du; dieses Ereignis feiern wir Christen wieder in wenigen Tagen. Als Jesus gekreuzigt wurde, wich Jesus Jünger, die  Frau Maria Magdalena, nicht von seiner Seite. Sie verband sich in ihrem Herzen mit ihm und litt mit ihm. "Lehre die Menschen die Liebe", hatte Jesus zu ihr gesagt. Sie schwor sich an jenem Tag, als sie am Kreuz wachte, diesen Auftrag auszuführen.

Ihr eigenes Herz war so voller Liebe, sie war so verbunden mit der Quelle alles Seins, dass sie glaubte, der Auftrag sei leicht zu erfüllen. Sie predigte, was sie von Jesus gelernt hatte, sie gründete eine Gemeinschaft der weißen Schwestern, sie gab allem Lebenden das, was bei ihr nie versiegte: die Liebe ihres Herzens.

Als ihr Körper sich bereit machte, seine Existenz auf der Erde wieder aufzugeben, erkannte Maria auf ihrem Sterbebett, dass sie versagt hatte. Natürlich hatte sie viel Gutes getan. Natürlich ging es den Menschen gut, die sie um sich geschart hatte, natürlich waren auch diese Menschen erfüllt von diesem wohligen Gefühl mitten zwischen den beiden Brüsten, diesem Gefühl, das in dir Wärme verbreitet mitten in der kältesten Nacht. Und natürlich gingen auch diese hinaus in die Welt und taten Gutes. Doch hatte sie, Maria, diesen Menschen die Liebe gelehrt? So grübelte sie auf ihrem Sterbett, während die Frauen sie versorgten.

"Grüble nicht darüber nach, was du nicht getan hast, Maria", fühlte sie eine vertraute Stimme in sich. Du hast getan, was du tun wolltest. Du hast die Liebe gepredigt. Deine Worte haben viele Herzen erreicht, haben in vielen Herzen den Funken Hoffnung zum Entflammen gebracht. Mehr kann ein Mensch nicht tun. Diejenigen, die du nicht erreicht hast, konnte selbst ich mit meinem Tod nicht erreichen. Das Wort erreicht nur denjenigen, der bereit ist, es zu hören. Du hast das Wort verbreitet, es durch dein Handeln als Samen in die Erde gelegt. Ob dieser Samen aufgeht, ob er Früchte trägt, das liegt nicht in deiner Macht."

"Ich wollte noch so viel mehr erreichen, ich habe viel zu kurz gelebt", warf sie ein. "Es gibt noch so viel Leid zwischen den Menschen, so viel Hass, dass sich mein Herz vor Mitleid zusammenzieht!"

"Ja, Maria. Du leidest mit diesen Menschen, versuchst, ihr Leid auf dich zu nehmen, so wie du am Kreuz die Schmerzen mit mir geteilt hast. Doch in deinem Mitleiden liegt der Ursprung deines Gefühls versagt zu haben."

Die Stimme schwieg einen Augenblick, doch Maria kannte das. Damals, als sie mit ihm durch das Land zog, hatte sie sich manches Mal gefragt, ob er schwieg um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, ob er schwieg, weil er sich die nächsten Worte überlegte oder ob er schwieg, um der verborgenen Essenz in seinen Worten Raum zu geben, sich zu manifestieren. Später wusste sie, dass zwar alles richtig war, doch das diese kleinen Pausen einfach seine Art waren, ein Gespräch zu führen.

"Schau, Maria lächelt", sagte eine der Frauen.

"Nein, sieh doch! Sie weint", bemerkte eine andere der Schwestern.

"Aber sie sieht glücklich aus", meinte die Dritte und tupfte Maria zärtlich die Tränen von den Wangen.

"Soll ich denn kein Mitleid empfinden", fragte sie sich.

"Mitgefühl und Mitleid sind zwei verschiedene Dinge.

Wenn du hinter Hass und hinter der Bosheit des Handels die Leere des Herzens siehst, wenn du das Leid fühlst, das aus der Sehnsucht heraus entsteht, geliebt werden zu wollen, dann empfindest du, Maria, Mitleid mit deinem Gegenüber. Du versuchst, ihm die Schmerzen zu nehmen. Du tröstest ihn, du schenkst ihm ein Glas deiner Liebe ein und reichst es ihm wie einem Verdurstenden. Du nimmst ihm ungebeten einen Teil seiner Last ab.

Doch sag mir, wie lange reicht dieses Glas Liebe, bis er wieder Durst hat? Bis er wieder eine liebende Seele sucht, die ihm einen Teil seiner Last abnimmt? Ist nicht die einzige Lösung für diesen Menschen, selbst an der Quelle zu sitzen? Dann litte er niemals mehr an Mangel.

Bei Mitgefühl fühlst du, erkennst du die Ursache hinter den Gefühlen, des Redens, des Handelns. Deshalb schenkst du ihm nicht das Glas sondern die Karte, auf der die vielen Wege zur Quelle eingezeichnet sind. Wie bei den Samen liegt es dann nicht in deiner Macht, ob er sich auf den Weg begibt. Es liegt auch nicht in deiner Macht, welchen Weg er einschlägt. Du weißt nicht einmal, ob er überhaupt Karten lesen kann. Doch dränge dich nicht auf, ihm die Karte zu erklären. Überlasse die Entscheidung dem Beschenkten, ob er um Hilfe bittet. Denn das wäre sein erster Schritt zur Quelle."

"Also habe ich doch versagt", entgegnete Maria. "Ich habe deinen Auftrag falsch verstanden."

"Bald, Maria, bald weißt du, dass es kein Versagen gibt. Du hast meinen Auftrag so erfüllt, wie du ihn verstanden hast. Du hast viele Samen gelegt und viele Gläser verteilt. Du hast vielen Menschen Hoffnung gegeben, die diese an viele Menschen weitergegeben haben und auch in Zukunft weitergeben werden. Der Funke Hoffnung wird zur Flamme die den Wunsch nach der Karte weckt. Irgendwann, in wenigen Jahrtausenden, wird der Wunsch nach der Karte dafür sorgen, dass jeder einzelne Weg auf ihr beschrieben wird. Das Wort wird immer wieder in vielerlei Schriften verkündet. Maria, der Samen ist aufgegangen!"

Maria fühlte, dass nun alles gesagt war und nahm dankend seine Hand", beendete ich meine Geschichte.

"Und wo ist die Karte", fragte mich der Schreiber mit großen Augen.

"Überall mein Freund, überall. Wenn du mit den Augen des Herzens die Welt betrachtest, findest du die Karte überall!"

„Hast du noch mehr Geschichten“, fragte er mich und fuhr fort ohne meine Antwort abzuwarten. „Weißt du Alter, ich möchte deine Geschichten niederschreiben. Dann kannst du eine Geschichte auch zweimal erzählen und musst dir nicht alles merken! Ich bin nämlich ein Schreiber und ich kann das. Ach so—kannst du überhaupt lesen?“

So erzählte ich ihm meine Geschichten den ganzen Winter über bis hinein ins Frühjahr. Als ich weiterzog, trug ich meine Geschichten als dickes Buch in meinem Beutel. „Herzenswünsche erfülle ich unbesehen“, lächelte ich im Gedenken an eine Mondnacht.