er bist du?

Endlich ist es wieder  Sommer! Ich lasse mir viel Zeit dieses Jahr, zum Ulmendorf zurückzukehren. Die Fülle der Natur entzückt all meine Sinne. Wolf und ich streifen durch die Landschaft, machen einmal hier, einmal dort eine Pause, um uns wieder mit etwas Dörrfleisch zu versorgen. Die Feuer haben in diesen Nächten meistens Pause. Der Herbst ist noch fern—obwohl, gegen Mitternacht wird es manchmal kühl. So auch in jener Nacht, als mich ein Dorfbewohner fragte, wer ich sei.
Nach einer kurzen Rücksprache mit mir selbst antwortete ich ihm:
„ Ich bin der, den du in mir siehst. Ich bin auch der, den du in mir nicht siehst. “
„Das ist keine Antwort“, meinte der Frager.
„Das ist meine Antwort für dich“, entgegnete ich ihm.
„Aber was willst du mir damit sagen? Ich will doch nur wissen, wer du bist!“.
„Ich weiß, mein Freund. Meine Antwort ist trotzdem dieselbe. Ich bin der, den du in mir siehst. Siehst du in mir einen Landstreicher, dann bin ich ein Landstreicher für dich. Ich könnte jetzt mit dir debattieren, dass ein Landstreicher nichts Unanständiges ist. Dass ein Landstreicher wohl näher mit der Natur verbunden ist, als ein Stadtmensch. Ich könnte dir erklären, dass ein Landstreicher durchaus ehrenwert ist, dass er eben nur „durch das Land streicht“, umherzieht, wie es auch die Zigeuner machen. Es kann auch sein, dass du darin etwas Anrüchiges vermutest, er jedoch einfach die Lust am Umherziehen hat.“
„Nein nein—das meine ich nicht. Du bist für mich kein Landstreicher!“
„ Und doch bin ich genau auch das—ich bin   ein Wanderer zwischen den Welten, mein Freund—nenn mich einen Weltenstreicher“, sagte ich lachend.
„Du willst mich nicht verstehen“, meinte er grollend.
„Warum sagst du das?“
„Weil du mir keine Antwort gibst!“
„Ich gab dir eine Antwort“, lächelte ich ihn an. „Ich bin der, den du in mir siehst.“
So ist es meistens, wenn ich auf Fragen antworte nach meinem „Wer bist du“.  Ich bin für den einen ein Landstreicher, für den anderen ein alter Mann, der Geschichten erzählt. Für den einen bin ich ein Lügner, für den Anderen ein Weiser. Für den Nächsten bin ich irgend etwas, und für den Anderen das Gegenteil.  Da ich ganz einfach alles bin, bin ich für jeden das, was er sehen möchte. So einfach ist das. Aber wie erkläre ich das?
„Hör zu, mein Freund, ich versuche es zu erklären. Ich bin nach Jahren gezählt ein alter Mann, der mit seinem Hund durch die Dörfer zieht und Geschichten über die Liebe erzählt. Das ist, was du von mir wahrnimmst. Und trotzdem stellst du die Frage, „Wer bist du“, da du fühlst, dass hinter diesem alten Mann „ein Geheimnis“ stecken mag. Natürlich trügt dich dein Gefühl nicht. Aber mein Geheimnis erzählte ich schon als Geschichte. Ich bin als Edelmann geboren, als Gerard getauft, ins Kloster gesteckt, geflohen als Felix, bin ein Franzmann, der bei euch Geschichten erzählt. Aber bin ich das denn wirklich? Das ist doch auch nur eine Geschichte, nichts anderes. Eine Geschichte im Spiel des Lebens. Wir erzählen alle unsere Geschichten. Du genauso wie ich!“
„Du bist ein Edelmann“, meinte er staunend. „Du? Weshalb machst du das dann? Weshalb lebst du dann nicht standesgemäß? Ich glaube dir das nicht!“
„Du musst gar nichts glauben—nichts von allem, was ich am Feuer erzähle. Deshalb sagte ich zu Anfang, dass ich  der bin, den du in mir siehst. Nenne mich einen Lügner. Und ich bin ein Lügner. Wie oft schon habe ich in meinem Leben die verdrehte Wahrheit gesagt. Also hast du Recht, ich bin ein Lügner. Doch was ändert das für dich? Was erwartest du von mir? Was erwartest du von dir? Hast du selbst noch nie, noch niemals in deinem ganzen Leben gelogen? Nein, nein, senk nicht den Kopf. Im Gegenteil. Hebe ihn und sage: „Ja, auch ich habe gelogen.“ Frage dich dann, weshalb du mich verurteilst ob deiner eigenen Taten. Verurteilst du etwa dich, wenn du mich einer Lüge bezichtigst?  Es macht keinen Sinn, mein Freund, über all diese Verstrickungen nachzudenken. Es verwirrt nur deinen Kopf. Glaube mir, es ist alles richtig, wie es ist. Auch wenn sich uns der Sinn nicht sofort erschließt.
Das stimmt für mich als Geschichtenerzähler genauso wie für dich als Zuhörer und Hinterfrager meiner Person. Nimm mich als das, was ich bin. Nimm mich als Mensch, den du magst oder ablehnst. Beides ist richtig. Die Antwort auf deine Frage, wer ich bin, ist deshalb einfach. Ich bin. Ich bin der, den du in mir siehst. Ich bin alles, was ist. So bin ich auch ein Geschichtenerzähler. Ich bin ein Edelmann. Ich bin ein Lügner. Ich bin ein Weiser. Ich bin ein Liebender. Ich bin ein Alter. Ich bin das, wofür du mich hältst!“
„He Alter, das ist heute Abend zu viel für mich. Darüber muss ich eine Nacht lang schlafen. Aber trotzdem—danke, dass du es versucht hast. Gute Nacht!“
„Gute Nacht, mein Freund“, sagte ich leise und wandte mich um zu Wolf.
„Du verstehst das, nicht wahr,“ meinte ich zu ihm, als ich sein Fell kräftig durch kraulte. „Du wirst nie gefragt, wer du bist. Du weißt, dass du bist. Und das genügt dir. Wolf, manchmal könnte ich dich fast beneiden!“