ie Wächter

Auf meinem Weg zurück aus dem Süden kam ich durch eine ebenso karge wie graue Felslandschaft. Wolf schaute mich mit vorwurfsvollen Augen an, da seine Pfoten doch sehr unter dem Untergrund litten. „Alter, konntest du dir keinen anderen Weg aussuchen“, schienen sie mich zu fragen. Natürlich hätte ich einen anderen Weg gehen können—aber ich war noch niemals über diese Berge gewandert. Ich bin neugierig, ich wollte wissen, wie es ist, über diese Berge zu wandern, anstatt um sie herum zu gehen.
Zurückblickend weiß ich, dass alles richtig ist. Wäre ich um den Berg herumgegangen, hätte ich ihn niemals kennengelernt. Ich ging gedankenverloren Schritt für Schritt vorwärts, sinnierte über dies und jenes, dachte über Vergangenes nach und übergab die Zukunft meinem vertrauenden Herzen. Ich schaute zu Boden, wunderte mich über die Vielfalt der Farbe Grau und vergaß meine Verwunderung wieder. Wolf trottete lustlos hinter mir her.
Hätte Wolf nicht leicht geknurrt, wäre ich sicherlich an ihm vorbeigegangen, so sehr verschmolz seine Gestalt mit den Felsen. Doch ich hob den Kopf, sah den Mann im grauen Umhang und grüßte ihn mit meiner rechten Hand und einem Nicken. Er stand nur da, starrte mich an. In seinen Augen wirkte ich wahrscheinlich genauso unwirklich wie er in den meinen. Seine Augen waren—wie hätte es anders sein können—grau. Graue, wache Augen in einem gebräunten, von der Witterung oder dem Leben zerfurchten Gesicht. Ich hätte an ihm vorbeigehen können mit einem Nicken, weiter meines Weges ziehen, über den Berg, hinunter ins Tal, zurück in die satten Farben eines regenreichen Sommers.
„Ich grüße euch, Fremder“, sagte ich stattdessen. „Ich bin ein Wanderer, der zusammen mit seinem Hund diesen Landstrich erkundet. Gibt es auf diesem Berg eine Jause, in der ich eine Brotzeit für mich und Wolf erhalten kann?“
Keine Antwort. Nichts. Nur dieser Blick aus wachen Augen, der mir, wie damals beim Köhler, ins Herz zu schauen schien. Er drehte sich um und ging mit sicheren Schritten einen Pfad entlang, der nach Westen führte. „Nun denn“, dachte ich, schaute dem Umhang nach und wollte mich wieder auf meinen Weg machen, als er sich umdrehte und mich mit einer ausholenden Bewegung seines Armes zum Folgen aufforderte. Was hatte ich schon zu verlieren, außer einen Umweg zu gehen? Wolf schien das auch so zu sehen, denn ehe ich mich versah, folgte Wolf dem Grauen und ich folgte dann Wolf. Die Sonne stand schon tief, wir würden dort—wo immer „dort“ auch sein mochte—wohl die Nacht verbringen.
Zusammen mit meinem Gefühl sagte mir der Sonnenstand, dass wir uns eine gehörige Strecke vom Weg entfernten, der uns ins Tal zurückführen würde. Doch nun war es zu spät zur Umkehr. Die Sonne würde bald untergehen. So folgten wir weiter dem Grauen, der wohl nichts vom gemächlichen Trott eines Wanderers hielt sondern schnell und zielstrebig voranging.
Als der Himmel die ersten Pastellfarben seines Sonnenuntergangs zu malen begann, sah ich „die Jause“. In den Berg gehauen tauchte sie unübersehbar auf—eine Festung in der Öde. Graues Gemäuer, angehaucht durch die zarten Farben, die für den morgigen Tag schönes Wetter versprachen. Welch ein Anblick! Ich blieb stehen, so stark berührte mich dieses Bild.
Als würde der Graue meine Gefühle spüren, drehte er sich um, blieb selbst das erste Mal seit unserer gemeinsamen Reise stehen. Ich schaute ihn aus der Distanz zwischen uns an, öffnete die Arme und schloss sie wieder um meine Schultern. Ich umarmte Schönheit aus ganzem Herzen. Er öffnete die Arme, verwandte die selbe Geste. Er lächelte. Dieses Lächeln berührte mich mehr als die Schönheit, die ich soeben umarmt hatte.
„Ja, das wollte ich dir zeigen, deshalb die Eile. Ich war sicher, du verstehst“, hörte ich ihn sagen, obwohl er kein Wort sprach.
Dann forderte er mich nochmals mit seiner Armbewegung auf, ihm zu folgen. Widerwillig löste ich mich von dem Schauspiel der Farben, die Himmel und Sonne für uns zauberten. Auf Wolf musste ich nicht achten, er war an der Seite des Grauen und spornte mich durch ein kräftiges Gebell zum schnelleren Gang an.
„Wer ist das“, fragte ich mich. Für einen Bediensteten erscheint er mir zu selbstbewusst. „Weshalb sagt er nichts“, fragte ich mich verwundert. „Ist er vielleicht ein Schweigemönch und dies ein Kloster? Nein, nein, das sieht nicht aus wie ein Kloster. Das ist eher eine Trutzburg. Welch ein Abenteuer“, dachte ich bei mir. Als wir am Tor ankamen, funkelte mitten im Sonnenuntergang ein Stern über diesem Berg. „Du bist hier sicher“, strahlte er mich an. „Sicher, wovor“, war ich versucht ihn zu fragen.
Neben dem Haupttor, das geöffnet wohl gut und gern drei Gespanne breit war, sah ich gerade noch Wolfs Hinterteil in einer Nische verschwinden. Ich folgte Wolf, der die letzten Stunden nicht von der Seite des Grauen gewichen war, und stand im Hof der Burg.
„Zieht an der Kette, dann schließt sich der Eingang“, forderte mich eine melodische Frauenstimme auf. „Die Herrin! Wenigstens spricht sie“, schoss es mir durch den Kopf. In den verglasten Fenstern fingen sich die letzten Sonnenstrahlen und blendeten mich, so dass ich sie nicht sofort sehen konnte. „Ich grüße euch, Herrin. Entschuldigt unser Eindringen“, wollte ich zu einer Erklärung ansetzen.
„Ihr seid IHM gefolgt, den man nur mit dem Herzen sieht. Deshalb seid willkommen im Hause des Wächters“, unterbrach sie mich. „Ihr wollt euch sicherlich erfrischen, ehe ihr mit uns das Mahl teilt. Kommt mit, ich zeige euch eure Unterkunft!“
Nun konnte ich sie endlich erkennen. Sie war nicht jung und sie war nicht alt, nicht groß und nicht klein, nicht dick und nicht dünn. Ihre Bewegungen waren fließend doch nicht hektisch. So melodisch wie ihre Stimme klang, so melodisch wirkte die ganze Frau. Wobei ich noch nie das Wort „melodisch“ als Attribut für einen Menschen verwendet habe—aber ich finde kein treffenderes Wort, um sie zu beschreiben. Sie wirkte wie eine fleischgewordene Melodie. So nannte ich sie dann in Gedanken „Melodie“.
„Was geschieht hier“, beschlich mich ein Gefühl der Unsicherheit.
„Du bist hier sicher“, versprach mir erneut der Stern.
So grau auch das Gemäuer von außen wirkte, in meiner Unterkunft sorgten warme Farben und ein leise knisterndes Feuer für ein Gefühl der Geborgenheit. An den Wänden hingen prächtig bestickte Stoffe, der Boden und die Deckenbalken bestanden aus honigfarbenem Holz, das Bett war so breit, dass neben  Wolf und mir bestimmt noch drei Personen darin Platz gefunden hätten. Ein mit Schnitzwerk verzierter Sessel lud vor dem Kamin zum Sitzen ein. Ich habe vieles gesehen, an vielen Orten geschlafen, auch bei wohlhabenden Herrschaften war ich oft zu Gast. Ein Ort wie dieser  war mir noch nie begegnet. Pracht geht oft Hand-in-Hand mit Prunksucht—nicht hier. Obwohl das Innere dieses Hauses aus jeder Ecke Reichtum und Fülle verkündete—nichts wirkte alt und bedrückend. Alles war gewachsen im Laufe von Generationen. Jedes Stück schien seine eigene Geschichte zu haben.
Gerne nahm ich das vorbereitete Bad, dem wohl etwas Lavendelöl hinzugefügt worden war. Ich fühlte mich zuhause. Wie sehr ich doch die Lavendelfelder meiner Heimat vermisse. Vielleicht sollte ich wieder zurückkehren. „Es ist richtig, wie es ist“, sagte mein Herz.
Auf dem Bett war frische Kleidung für mich bereitgelegt worden. Während ich mich genüsslich anzog, verfing sich mein Blick  in der Stickerei der Stoffe. Beim näheren Betrachten entpuppten sich die Stoffe als umlaufender Wandbehang.  Er erzählt die Geschichte eines Mannes, angefangen bei seiner Geburt, zeigt Episoden seiner Kindheit, seine Vermählung und die Geburt dreier Kinder, den Auszug grauer Ritter aus der Burg, eine Schlacht, in der er verwundet wurde, dann einen Trauerzug mit ihm auf einer Bahre und zuletzt,  so vermutete ich, sein Todeslager, da es von Engeln umgeben war. „Ich werde „Melodie“ nach seinem Schicksal befragen“, beschloss ich für mich, da der Wandbehang nicht mehr aussagte.
Ein zartes Klopfen an der Tür rief mich zur Mahlzeit. Ein junger Bursche, der gerade den ersten Flaum auf den Wangen hatte, zeigte mir den Weg.
„Wieviel seid ihr hier in der Burg“ begann ich ein Gespräch.
„Mal mehr, mal weniger“, kam die lakonische Antwort. „Wenn ihr es genau wissen wollt, fragt die Herrin.“
Dann eben nicht. „Wo ist mein Hund Wolf“, wollte ich einen weiteren Versuch wagen, ein Gespräch zu beginnen, doch er kam mir zuvor.
„Er ist bei der Herrin. Sorgt euch nicht“, kam die freundliche Antwort, die jedoch keinen Zweifel darüber ließ, dass er keine Lust auf eine Unterhaltung hatte.
Hatten sie alle ein Schweigegelübde abgelegt?
Ich spürte ein Gelächter in mir und schaute in die vergnügten Augen des Jünglings, der mir die Tür zum Speisesaal öffnete und mich eintreten ließ. „Melodie“ erwartete mich.
„Ihr seid verwundert, Gerard“, sprach sie mich mit meinem Taufnamen an. „Mein Name ist Leonie, so wie der eurer kleinen Schwester“ fuhr sie fort.
In der Tat war ich verwundert, wobei „verwundert“ meinen Zustand nur ungenügend beschrieb. Erst jetzt erkannte ich die Ähnlichkeit zwischen ihr und dem Grauen, den ich seit meiner Ankunft in der Burg nicht mehr gesehen hatte. Es waren diese grauen Augen, derselbe tiefgehende Blick.
„Setzt euch, Gerard, esst und trinkt, während ich euch eine Geschichte erzähle“, lud sie mich mit einer Handbewegung an den reich gedeckten Tisch ein.
„Ich bin befugt, euch die Geschichte der Wächter erzählen, da Ihr IHM gefolgt seid. Die Legende besagt, dass die Linie der Wächter seit Anbeginn der Menschheit besteht. Die ersten Aufzeichnungen über uns gehen zurück bis 500 Jahre vor Christi Geburt. Der Wandbehang in Eurem Zimmer erzählt die Geschichte meines Vorfahren, der sich als Wächter den Templern angeschlossen hatte. Er versuchte, das Unheil zu verhindern oder zu mildern, das Andersgläubigen angetan wurde. Ich weiß, dass ihr den Wandbehang betrachtet habt.
Franziskus, so hieß mein Vorfahr, hatte sich den Templern angeschlossen, die ausgezogen waren, das Wort Christi zu verbreiten und in seinem Namen Ungeheuerlichkeiten begingen, zu denen ER niemals bereit gewesen wäre. Des nachts, während das Lager der Templer ungenügend bewacht wurde, schlich er sich davon, um die „Ungläubigen“ zu warnen.
„Die stecken mit dem Leibhaftigen zusammen“, meinten seine Weggefährten. „Wie sonst könnte es sein, dass die Dörfer leer sind? Als hätte man sie von unserer Ankunft gewarnt!“  Franziskus wusste, dass seine Weggefährten Verdacht geschöpft hatten—trotzdem tat er, was er tun wollte.
Die Stickerei beschönigt den wahren Sachverhalt. Er wurde nicht in einer Schlacht verletzt—ein Ritter aus den eigenen Reihen versetzte ihm den Hieb. Doch ich nehme die Geschichte vorweg—verzeiht.
Es war, wie ich schon sagte, der Verdacht aufgekommen, dass einer der ihrigen, der zum engsten Kreise gehörte, die Andersgläubigen warnte. Als sich die Gemeinschaft im Morgengrauen auf die Pferde schwang, gab es eine Änderung der Richtung.  Nicht nach Osten zogen sie, sie ritten über Land nach Südosten. Die Sonne stand noch nicht hoch, als sie die Bewohner völlig unvorbereitet auf ihr Kommen  antrafen. Die Schar der grauen Reiter tauchte aus der Staubwolke auf, die durch den Galopp der Pferde aufgewirbelt wurde. Die Menschen des Zeltdorfes wurden zusammengetrieben wie eine Viehherde.
„Ungläubige, im Namen unseres Herren, bekennt euch zum wahren Glauben“, schrie man ihnen zu in einer Sprache, die ihnen fremd war. Erst standen sie und schauten die Grauen an wie einen Spuk. Dann hieb man auf sie ein, und sie fühlten, dass ihr Leben bedroht war. Sie sanken zu Boden, flehten zu ihrem Gott um Gnade. Doch missionarischer Eifer kennt keine Gnade. Zuerst wurden die Männer einzeln nach vorne gezerrt. Jeder, der das Kreuz küsste, wurde verschont. Den anderen wurde mit einem Hieb der Kopf abgetrennt. Die Frauen und Kinder mussten mit ansehen,  wie ihre Männer und Väter starben. Das Grauen stand in ihren Augen. Als nun die Mütter und Kinder antreten mussten, stellte sich  Franziskus vor sie.
„Brüder, haltet ein. Es sind doch nur Weiber und Kinder!“
„Aus dem Weg! Das sind Heiden und ihre Brut. Aus Kindern werden Männer, aus Männern werden Soldaten.“
In den Augen seiner Gefährten waren es Heiden, die ihrem Gott nicht abschwören wollten, eine Brut, die vernichtet gehört im Namen Gottes. Im Namen Gottes wollte Franziskus sie beschützen.
„Im Namen unseres Herrn, zeigt Gnade“, flehte er die Gefährten an, als er den Rausch nach Blut und Tod in ihren Augen sah.
„Fahr zur Hölle Verräter!“ Mit diesem Ausruf traf zuerst ihn der Streich, dann diejenigen, die er beschützte. Sie wähnten ihn des Todes und taten ein weiteres. „Schneidet dem Verräter die Zunge aus dem Gaumen und verfüttert sie an die Hunde. Und lasst ihn in der Sonne verrotten, er verdient kein Begräbnis unter dem Kreuz!“
Franziskus erwachte in einer Lehmhütte und nahm das verschwommene Bild dreier Gestalten wahr. „Bin ich tot“, wollte er fragen. Doch kein Laut kam über seine Lippen. Sein Kettenhemd hatte Franziskus vor dem sicheren Tod bewahrt, die Sprache jedoch konnte es ihm nicht wiedergeben. Gnädig nahm der Herr ihm wieder seine Sinne. Sechs Monde rang er mit dem Tod, bis er eines Morgens völlig klar erwachte. Neben ihm schlief sein treuer Knappe Johannes.
„Ich bin also doch nicht tot“, war sein erster Gedanke. „Johannes“, wollte er rufen. Und er verstand die Leere in seiner Mundhöhle. Lautlos liefen ihm die Tränen über das Gesicht. Er sank zurück auf sein Lager, drehte Johannes den Rücken zu und weinte, bis er vor Erschöpfung  einschlief.“
„Herrin, ihr wollt mir doch nicht sagen, das er der Graue ist“, rief ich ungläubig aus.
„Höre die ganze Geschichte, Gerard“ meinte sie ruhig.

„Sein Sprachverlust ließ ihn die Menschen meiden.  Johannes wollte zurück in die Heimat, nun, da der Kreuzzug für seinen Herren vorüber war. Franziskus wollte jedoch bleiben. Die Ungläubigen hatten ihn gerettet und aufgenommen. Er war zu ihrer Legende geworden. Legenden wandern schnell in der Wüste, so schnell, wie der Wind einen Sandsturm entfacht. Die Geschichten vom grauen Ritter mit den hellen Augen wurden in den Zelten erzählt. Ein Ungläubiger, der sich für ein fremdes Volk einsetzte. Ein wahrer Sohn Gottes. Gott hatte ihm die Sprache geraubt, damit er nicht über ihn berichten konnte. So wurde es erzählt.
Er wandte sich ab vom Außen und führte endlose Debatten mit seinem Innen.
„Ich habe versagt“ war die Anklage gegen sich selbst. „Sie sind tot, alle tot. Ich konnte sie nicht retten. Alles umsonst, verpfuscht, versagt.“
„Wer sagt das, Wächter“, bekam er eine Antwort.
„Ich.“
„Wer ist ICH?“
„Ich, Franziskus.“
„Gut.“
„Gut?“
„Ja, denn der Wächter weiß es besser. Franziskus nicht.“
Franziskus verweigerte danach auch das Reden mit dem Innen. Er grollte. Er grollte mit sich, mit der Stimme, die mit ihm stundenlange Debatten führen konnte, er grollte mit Gott. Er grollte selbst mit dem Wüstenvolk, das ihn als einen Helden verehrte. Inzwischen hatte er ihre Sprache erlernt, verstand, was sie bewegte, verstand ihren Glauben und verstand, dass diese Kreuzzüge sinnlos waren. Und er grollte, weil er in einem blinden Glaubenskrieg seine Zunge verloren hatte.
„Nicht deshalb“, mischte sich die Stimme ein.
„Schweig!“
„Es genügt, wenn du als Franziskus schweigst. Ich rede mit dem Wächter!“
Franziskus hielt sich die Ohren zu, obwohl dies ein ziemlich sinnloses Unterfangen war.“

„Franziskus musste doch wohl irgendwann in die Heimat zurückgekehrt sein. Sonst gäbe es die Geschichte nicht“, warf ich ein, da es mir nicht schnell genug ging.
„Geduld hast du nicht gelernt, Gerard“, lächelte sie mich an und fuhr unbeirrt mit der Erzählung fort.
„Eines Nachts, als er nicht schlafen konnte, befragte er sein Innen.
„Weshalb unterscheidest du zwischen mir als Franziskus und mir, als dem Wächter?“
„Dich, Franziskus, gibt es jetzt, in dieser Zeit. Die Wächter sind Teil der Schöpfung, sie sind unsterblich. Dein menschlicher Körper vergeht, dein Auftrag als Wächter jedoch niemals. Und hier, Franziskus, beginnt es schwierig zu werden. Von Körper zu Körper verlierst du einen kleinen Teil Erinnerung. Sieh dich an, Franziskus, betrachte dich als das, was gerade ist. Du bist ausgezogen, um Unrecht zu verhindern oder zu mildern. Diesen Auftrag hast du bravourös erfüllt, bis hin zur Sprachlosigkeit ob des Grauens! Und was tust du? Du haderst mit dir selbst, dass du nicht noch mehr tun konntest. Als Wächter im Vollbesitz seiner Erinnerung wüsstest du, dass du nun einen anderen Auftrag hast.“
Franziskus schwieg, doch diesmal nicht aus Groll.  
Er blieb noch einen Mondzyklus beim Wüstenvolk, danach machte er sich mit Johannes auf den Weg zur Wächtersburg.“

Wir wurden unterbrochen durch den Jüngling, der einen Krug Wein und einen Krug Wasser brachte und vor dem Hinausgehen respektvoll meine Gastgeberin fragte: „Kann ich die Speisen mitnehmen, Herrin?“ Mit einem kurzen Blick auf mich und nach meiner Bestätigung gab sie ihm den Auftrag. Er wandte sich um, zog einen Wagen zu sich und räumte auf ihn die Reste.
„Bemerkenswert“, dachte ich bei mir.
„Gerard, dies ist eine Neuerung, die uns ein Gast empfahl“, deutete die Herrin meinen Blick. „Anfangs waren seine Räder zu laut und verschandelten den Holzboden. Dann kamen wir auf den Gedanken, ihn dick mit Stoffresten zu umwickeln.“
„Ihr habt nichts gegessen“, bemerkte ich zu ihr.
„Ich brauche wenig“, gab sie mir zur Antwort.
„Wolf, geh mit. Du hast Hunger“, sagte sie zu Wolf, der friedlich vor dem Kamin geschlafen hatte. Wolf stand auf und ging mit dem Jüngling hinaus.
„Bemerkenswert“, dachte ich nochmals.
„Nicht wirklich. Du hast einen klugen, sehr empfindsamen Gefährten“,  kommentierte sie mein Erstaunen.
„Herrin, könnt ihr meine Gedanken lesen?“
„Kannst du Gedanken lesen, Gerard“, kam ihre Gegenfrage.
„Nehmt, was ihr möchtet.“ Sie deutete auf Wein und Wasser.  „Ich erzähle dir die Geschichte von Franziskus weiter.  Das heißt, natürlich nur, wenn ihr sie noch hören möchtet.“
Sie konnte sich zwischen der Anrede der dritten und der zweiten Person nicht entscheiden.  
„Nennt mich nur Gerard, ohne ihr und euch.“
„Dann nennst du mich nicht Herrin. Nenn mich Leonie, falls dich das nicht irritiert.“
„So sei es.“

„Franziskus brauchte fünf volle Jahreszyklen, um zur Wächtersburg zurückzukehren. Er überließ alle Zeichen seines Standes—selbst sein Schwert—dem Wüstenvolk. Er bekam Vorräte, zwei Pferde, warme Decken und den Segen ihres Gottes.
„Wie kam es eigentlich, dass Johannes bei Franziskus war“, unterbrach ich sie.
„Niemand vermisste damals einen Knappen. Als Johannes sah, dass sein Herr niedergestreckt wurde, rannte er blindlings weg. Seine Flucht wurde nur von denjenigen bemerkt, die ein sicheres Versteck hatten. Ein paar Arme ergriffen ihn, hielten ihm den Mund zu und zerrten ihn in eine Erdhöhle. Lautlos und in fast völliger Dunkelheit harrten die Flüchtlinge aus, bis nur noch das Stöhnen der Verwundeten zu hören war. Die Templer verschwanden so, wie sie gekommen waren. Ihre Körper wurden vom aufgewühlten Sand und Staub verborgen. Als nichts mehr auf ihre Anwesenheit deutete, wagten sich die Überlebenden aus der Erdhöhle.
Johannes erster Weg war zu Franziskus. Er warf sich auf ihn und fing an zu schluchzen. Der Körper war noch warm. Zuerst meint Johannes, er fühle sein eigenes Herz, doch dann bemerkte er, dass das Herz seines Herren noch schlug. Er sprang auf und zerrte einen Fremdling zu Franziskus, nahm dessen Hand und legte sie auf Franziskus Herz. Dieser dann sprang auf und winkte einer alten Frau, die sich um die Toten kümmerte. In seiner rauhen Sprache sprach er schnell und eindringlich auf sie ein. Die Alte beugte sich zu Franziskus und nahm seine Hände. Sie schloss die Augen und nickte. Sie nickte nochmals und ging weg, um kurz darauf wiederzukommen mit einem Krug Wasser, Stofffetzen und Kräutern. Sie reinigte Franziskus Wunde, gab die Kräuter darauf und wickelte seinen Oberkörper und die Kräuter mit den Stoffen ein. Dann legte sie ihre Hände auf ihn, summte Töne und wiegte sich hin und her. Dies dauerte für Johannes viel zu lange, der nicht verstand, was die Alte tat.
Er wollte zu seinem Herren—doch braune Hände hielten ihn zurück und bedeuteten ihm, dass alles richtig sei.
Die Alte saß bei Franziskus bis die Sonne sich zum Untergehen bereit machte. Dann stand sie auf und sprach mit den Bewohnern, die daraufhin begannen, aus dem gesammeltem Feuerholz eine Bahre zu bauen. Mit einem Blick auf den Stand der Sonne trieb die Alte die Bewohner zur Eile an.
Johannes hatte in der Zwischenzeit den Heiden geholfen, die Toten von den noch mit dem Tode Ringenden zu trennen. Die Toten wurden liebevoll nebeneinander gelegt, die noch Lebenden von den Frauen versorgt. Doch wenige der Schwerverletzten überlebten den Nachmittag. Du magst dich fragen, was aus denen wurde, die aus Todesfurcht das Kreuz geküsst haben. Sie baten ihren Gott um Vergebung. Es war eine Angelegenheit zwischen ihnen und ihrem Gott. Die Menschen verhielten sich, als hätte es diesen Augenblick nicht gegeben. Alle waren Teil des Stammes. Ein Teil des Stammes, der das Grauen überlebte und nun mithalf beim weiteren Überleben.
Johannes fragte sich, wann die Toten begraben würden—doch nichts dergleichen geschah. Der Stamm überließ sie der Natur, nachdem Abschied genommen wurde. Neben Franziskus überlebten noch 11 Stammesmitglieder das Gemetzel. Der Stamm zog sich zurück in Gegenden, in denen nur das Wüstenvolk überleben konnte. In der Zeit, in der Johannes und Franziskus bei ihm weilten, begegneten sie nie mehr den oder dem Grauen“, schloss „Melodie“ oder Leonie die Geschichte für den Abend.

„Alter, es reicht für heute abend. Morgen erzähle ich dir mehr. Ich bin müde, verzeih“, meinte sie zu mir. Es blieb mir nichts anderes übrig, als meine Ungeduld zu zügeln.
„Ohne Wolf kann ich nicht schlafen“, meinte ich lächelnd.
„Natürlich“, lächelte sie zurück, „doch er wartet schon auf dich in deinem Gemach.“
„Danke, Herrin, für eure Gastfreundschaft“, verbeugte ich mich vor ihr.
„Gerard, ich heiße Leonie! Fällt dir dieser Name noch so schwer, Bruder der Wächter?“
Mit diesem Satz, mit einem Lächeln ausgesprochen, das alle Fragen offen ließ, wünschte sie mir eine gute Nacht und verließ den Raum.

Sie ließ mich zurück an einem verglimmenden Feuer und mit einem Schmerz, den ich mich nicht anzuschauen traute. Leonie, geliebte Schwester. Was ist nur aus dir geworden? Du hast sicherlich einen Mann geheiratet, hast Kinder bekommen, deren Onkel ich bin. „Leonie, kleine Schwester, ich hoffe, es geht dir gut“, dachte ich mit meinem liebenden Herzen. Falls sie Kinder hatte, und da war ich mir sicher, müsste sie inzwischen auch Kindeskinder haben. Die Sehnsucht nach dem, was einmal war, überkam mich heftigst. Ich vermisse nichts und niemanden so sehr wie Leonie. „Weshalb heißt die Herrin ausgerechnet Leonie“, fragte ich mich.
Weil dein vermeintlicher Verlust dein tiefster Schmerz ist“, antwortete mein Herz.

In dieser Nacht träumte ich von meiner Schwester Leonie, spielte mit ihren Kindern und Kindeskindern. Ihre Kinder waren wie wir, spielten mit den Hühnern und Enten, schauten den Ameisen zu, waren verbunden mit der Natur. Ich fühlte in meinem Traum die Verbundenheit mit Leonie. Ich wusste, mein Leben, mein Schicksal hatte einen Sinn. Ich fühlte, dass alles richtig ist, wie es ist, auch wenn mich die Sehnsucht nach Vergangenem plagt. Ich war glücklich in diesem Traum.
Die Sonne weckte mich am nächsten Morgen. Mit einem lauten Niesen richtete ich mich auf. Verwirrt schaute ich um mich.

Wo war mein Bett, die Wächtersburg, wo war Leonie, die Herrin? Wolf lag neben mir, schläfrig, als wolle er sagen: „Träume weiter Alter, lege dich noch mal hin und träum weiter. Ich liebe dieses weiche Lager!“
Wir lagen in einer Senke, weiches Moos und Decken hatten uns wohl diesen Traum beschert. Richtig! Wir haben ja gestern bis zur Dämmerung noch ein Stück des Abstieges geschafft.

„Ein Traum? Dies soll nur ein Traum gewesen sein? Was ist mit dem Wächter“, fragte ich mich.
Was soll mit ihm sein“, kam die Frage aus dem Innen.
„War dies nur ein Traum“, fragte ich zurück.
Träume sind Botschaften. Träume bringen als Bilder Erinnerungen, Wächter“, bekam ich die Antwort auf meine Frage.
„Wächter?“
Du hast viele Brüder und Schwerstern, die mit dir wachen. Unbemerkt seid ihr da. Keine Loge, keine erkennbare Bruderschaft. Und doch wirkt ihr seit Anbeginn der Menschheit. Ihr lebt ein Leben der Liebe zum Sein. Das Leben in Liebe zu allem was ist offenbart dich als Wächter.

„Nur ein Traum“, dachte ich. „Schade, ich hätte gerne alles über Franziskus gewusst.“
Du weißt alles über ihn, was du wissen willst. Deshalb bist du jetzt erwacht“, sagte mein Herz.

Meinem Kopf will dies nicht genügen—dennoch habe ich ein großes Lächeln in mir.
„Komm Wolf, steh auf von diesem weichen Lager. Lass uns weiter ins Tal hinab steigen!“