chiffbruch

Auf meiner Wanderung zu meinem Winterquartier hatte es mich in ein eigenartiges Land verschlagen. Es gefiel mir gut, dieses Land, in dem die Menschen in Harmonie mit der Natur lebten. So schien es zumindest am Anfang. Doch lasst mich von vorne beginnen.

Die Herbstluft kündigte den nahen Winter an, als Wolf und ich uns auf den Weg machten in wärmere Länder. Wir wollten nicht wieder den eiskalten Winter hierzulande erleben, wir sind beide schon etwas in die Jahre gekommen, Wolf und ich. Wir bevorzugen die wärmende Sonne, die unsere alten Knochen streichelt. Auf dieser Wanderung war es, dass ich in jener Novembernacht einem Freund begegnete, der wie kein anderer meine Sicht der Welt verändert hatte. Vielleicht verlief auch deshalb dieses Jahr alles anders als in den Jahren zuvor. Ich weiß nicht mehr, weshalb ich mich entschloss, das Festland zu verlassen und zu den Inseln zu reisen. Vielleicht, weil ich einen guten Notgroschen zur Seite gelegt hatte, vielleicht auch, weil ich einfach wieder einmal das Meer schmecken wollte, oder aus irgendeiner Laune heraus. Es ist auch nicht wichtig. Obwohl, über diese Frage denke ich immer noch nach—vielleicht ist sie ja doch wichtig.
Das Meer ist mir vertraut seit meiner Jugend. Manchmal vermisse ich es. Und so genoss ich die Überfahrt. Wolf gewann schnell die Freundschaft der Seeleute, die ihn mit Fisch und Dörrfleisch fütterten. Ich könnte schwören, er wurde in der Zeit der Überfahrt etwas rundlicher. Ich fühlte mich wieder als Gerard, den der Vater zum Fischen mitnahm—wenn er mir gerade wohlgesonnen war. Der Wind verwehte meine Haare und erinnerte mich daran, dass ich an Land einen Barbier aufsuchen sollte. So nahm ich denn ein Band und fasste den grauen Schopf nach Seemannsart zusammen.

Der Segler steuerte auf seiner Reise jede Insel an, löschte Ladung, nahm Ladung auf. Ich ging an Land, schaute mich um, ließ Wolf die Gegend erkunden und ging wieder an Bord, meist nach Wolf. „Weiter! Hier noch nicht“, drängte es uns zur nächsten Insel.
„Alter, wenn du bei der nächsten Insel nicht an Land gehst, dann musst du mit uns eine lange Überfahrt machen! Das hier ist nur ein Geplänkel. Nach der letzten Insel haben wir genügend Ware, um wirklich in See zu stechen!“
„Wohin segelt ihr?“
„Dem Reichtum entgegen Alter! Gewürze! Damit kannst du reich werden.“
Diese Reise wäre mir nun wirklich zu lang geworden, deshalb verließen wir bei der letzten Insel den Segler.
Es sollte wohl so sein. Die Insel gefiel mir auf Anhieb besser als all die anderen. Üppiges Grün wohin das Auge fiel, braune, wettergegerbte Gesichter der Männer, ein prüfender Blick auf mich und Wolf, ein Lächeln in den Augen. Die Frauen meist rundlich, geschäftig, gestikulierend. Schwarze, braune, gefleckte Ziegen freilaufend im Dorf. Fischer, die die Netze für die Dämmerstunde vorbereiteten, der Geruch von frisch gebackenem Brot in der Luft. Das, so beschloss ich, würde unser Winterquartier sein. Und sie sprachen auch noch meine Muttersprache. Zwar einen herben Dialekt, aber ich verstand sie und sie verstanden mich.

„Alter“, unterbrach mich ein Dorfbewohner, „nun erzähl doch schon die Geschichte. Was ist geschehen?“
„Ich bin schon mitten in der Geschichte“, lächelte ich den ungeduldigen Zuhörer an. Ja, so sind sie, die Jungen. Wollen alles in einem einzigen Satz.

„Wolf und ich fanden eine Bleibe am Rand des Dorfes in einer Hütte, die wohl aufgegeben worden war. Nachdem ich die Tür gerichtet, den gröbsten Schmutz entfernt, die vernagelten Fenster geöffnet hatte, brauchte ich nur noch etwas Stroh als Lager, auf dem ich meine Decke ausbreiten konnte. Auch das war schnell beschafft.
Einen Barbier hatte der Flecken nicht, also ließ ich meinen Schopf so wie er war und befand mich damit in guter Gesellschaft. Der Bart wurde mittels eines scharfen Messers gestutzt.
Ich gewöhnte mich an den Dialekt und passte meine Sprache an. Ich erzählte ihnen nachts Geschichten (von denen sie übrigens niemals genug bekamen) und bekam Nahrung und Gastfreundschaft. Tagsüber kamen die Kinder zu mir und ich fing an, sie schreiben und lesen zu lehren. Manchmal kamen junge Männer oder junge Frauen, die auch lernen wollten. Meine Zeit im Kloster verhalf mir dazu, ihr Lehrer zu sein. Wolf sah ich nur wenig. Er hatte eine Hündin gefunden, mit der er tagelange Streifzüge unternahm. Wir wurden Teil der Gemeinschaft, waren keine Fremden mehr. Ein Paradies auf Erden. Doch wie lehren die Schriften? Kein Paradies ist ohne die Schlange.
Die Schlange kündigte sich an über einen heftigen Sturm. Wir verloren viele der Boote, die wie immer mit dem Kiel nach oben am Strand lagen. Die Brandung wurde so heftig, dass die Boote von den Wellen erfasst und ins Meer gerissen wurden. An jenem Tag fanden wir die Überreste eines Schiffes. Nicht weit davon entfernt fanden wir einen Mann, wie durch ein Wunder am Leben, wenn auch verwundet und näher dem Tod als dem Leben.  

„War er die Schlange“, unterbrach mich ein anderer Zuhörer, der schon immer einmal das Meer kennenlernen wollte, wie er mir später sagte.

„Ja und nein zugleich. Die Schlange ist nicht der Andere. Die Schlange ist in uns selbst.“
„Erzähl weiter, Alter. Hör nicht auf ihn. Was geschah dann?“
„Legt ihr bitte noch etwas Holz nach? Mich fröstelt. Vielleicht auch durch die Erinnerungen der letzten Zeit.“

„Mit frischen Kräutern, die mit einem Mörser zu Brei zerstampft und dann dick auf Leinen aufgetragen wurden, verbanden die Frauen seine Wunden. Er bekam Fieber, schrie einzelne Worte heraus. Er musste ein Landsmann sein, denn die Flüche waren im Dialekt der Insel. Die Frauen wechselten sich ab mit der Wache an seinem Lager, betupften seine Lippen mit Kräutersud, deckten ihn wieder zu, wenn er im Fieber versuchte, sich Kühlung zu verschaffen. Dann, nach drei Tagen und Nächten des Wachens, hatten die Kräuter und sein Lebenswille gesiegt. „Wasser“ flüsterte er fast unhörbar. Ich half, seinen Körper leicht anzuheben, und gab ihm löffelchenweise, wonach er verlangte. Er schlief sofort wieder ein, diesmal in einen ruhigen Genesungsschlaf.
Ich hatte die Nachtwache für die Frauen übernommen und war selbst etwas eingenickt.
„Bin ich tot?“
Bei dieser Frage schreckte ich hoch und sah den Fremden, der mich anstarrte. Verblüfft erkannte ich, dass er ein helles und ein braunes Auge hatte. Ich räusperte mich.
„Nein, du hast überlebt, du bist in Sicherheit!“
„Du bist nicht von hier“, meinte er bestimmt. „Du sprichst unsere Sprache, gehörst aber nicht hierher!“
„Ja, ich bin ein Fremder. Mein Hund und ich verbringen den Winter hier“ entgegnete ich ihm.
„Das ändert auch nichts!“ Mit diesem Satz sank er wieder auf sein Lager und schlief ein.

Als es dämmerte und ich die ersten Klänge morgendlicher Beschäftigung hörte, verließ ich die Hütte. Die Sonne ging auf, schöner denn je erschien sie mir, wie sie zart den Pinsel führte und den Himmel in ein Aquarell der Farben tauchte.

„Sag“, wandte ich mich auf dem Weg zu meiner Hütte an einen der Alten, „kennst du einen Mann mit einem braunen und einem hellen Auge aus eurem Dorf?“
„Lelou! Lelou hatte ein braunes und ein helles Auge. Aber der ist tot. Weshalb fragst du?“
„Der Mann am Strand, er hat ein braunes und ein helles Auge.“
„Das kann nicht sein!“
“Doch, ich habe es mit eigenen Augen gesehen.“
„Nein nein, Lelou wäre noch älter als ich. Lelou ist tot, schon lange!“ Kopfschüttelnd ging er weiter Richtung Strand.
 „Lelou. Unmöglich. Ganz unmöglich“, sprach er zu sich selbst als wolle er sich beruhigen.
Die Nachricht der unterschiedlichen Augenfarbe verbreitete sich in Windeseile. Das Dorf glich einem aufgeschreckten Ameisenhaufen.
„Wir hätten ihn verrecken lassen sollen! Der Teufel ist wieder auferstanden!“
„Weib, versündige dich nicht. Es ist genug geschehen, damals. Es kann nicht Lelou sein.“
„Ich jedenfalls pflege den nicht mehr!“ Damit war die Unterhaltung zwischen den Eheleuten beendet, da sie sich mit einem kleinen Schnauber abwandte und ins Haus ging.

„Was, er hatte wirklich zwei unterschiedliche Augen? Alter, du nimmst uns auf den Arm“, unterbrach mich einer meiner Zuhörer.
„Lelou—ein eigenartiger Vorname. Hast du den erfunden?“ fragte ein zweiter.
„Er hatte wirklich unterschiedliche Augen. Und Lelou heißt in dieser Sprache: der Wolf“, erklärte ich.
„So wie dein Hund heißt? Wolf? Er heißt „der Wolf“?
„Weiter Alter, erzähl weiter“, wurde ich energisch aufgefordert.

„Ja, der Mann von dem sie meinten, er sei wieder auferstanden, hieß der Wolf. Sie hatten ihn so getauft, da sein eines Auge hell wie das eines Wolfes war, das andere braun wie das eines Hundes. Sie hatten Angst vor ihm, verkörperte er doch durch seine Augenfarben gleichzeitig die unbezähmbare Wildheit des Wolfes und die Treue und Ergebenheit eines Hundes.

Lelou wurde geboren in einer Zeit, in der man nicht so aufgeschlossen war dem Fremden gegenüber wie heute. Man glaubte an Hexerei. Man glaubte, seine Mutter hätte sich mit dem Satan eingelassen, war doch der Vater ihres Kindes nicht bekannt. Sie hatte den Namen auch mitgenommen in ihr Grab, in das sie nach der Geburt ihres Sohnes gelegt wurde.
Anfangs hatte Lelou Zieheltern, eine Mutter, die gerade ihr Neugeborenes verloren hatte und Lelou die Brust gab. Damals hatte man ihn auf den Namen Louis getauft. Damals waren seine Augen von dunklem Blau, und zwar beide. Als sich bei Louis die Augen veränderten, begann sein Weg des Leidens—zwar  nicht sofort, aber doch unaufhaltsam. Einer der Ältesten erzählte mir die ganze Geschichte von Louis, den sie den Wolf nannten.

Seine Ziehmutter gab ihm noch die Brust, bis er zwei Jahre alt war. Ein kleiner, strammer Kerl, der prächtig gedieh und so herzlich lachen konnte, dass seine Ziehmutter ihm alles verzieh. Sie lehrte ihn, dass er die Ziegen nicht an den Schwänzen ziehen durfte, dass er Respekt vor den Heilkräutern im Garten habe müsse, weil dort Elfen und Gnome hausten, sie nahm ihn mit in den Wald und zeigte ihm die Plätze der Kraft, die Majestät der Bäume, die Erhabenheit der Farne, die Schönheit von Moos. Sie lehrte ihn alles, was sie jemals ihr eigenes Kind gelehrt hätte.
Als er sieben Jahre alt war, schloss sie ihre Augen für immer. Der Ziehvater folgte ihr drei Tage später, sein Herz hörte auf zu schlagen. Bald entstand das Gerücht, dass Louis seine Eltern verhext hätte. Innerhalb von drei Tagen beide tot, das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen. Niemand wollte Louis zu sich nehmen. Sie stellten ihm im Morgengrauen Essen vor die Hütte und mieden ihn. Niemand sprach ihn an, niemand gab ihm Antwort auf seine Fragen. Niemand tröstete ihn über den Verlust beider Eltern hinweg. Die alten Geschichten lebten wieder auf. Das Satanskind. Er war gebrandmarkt durch seine Augen. Die Geschichten schienen wahr zu sein. Denn eines Tages stand das Essen unberührt vor der Tür. Am Folgetag ebenso. Und am Tag danach. Als sich einer der Dorfbewohner in die Hütte traute, war das Kind nicht mehr da. Wie durch einen Zauber war er verschwunden. „Der Satan hat ihn zu sich geholt“, sagten die Weiber. „Er ist im Meer ertrunken“, mutmaßten die Männer. Das Leben ging weiter in den geregelten Bahnen. Louis war fort. Und das war gut so.“

„Hat ihn wirklich der Satan geholt?“
Gebannt warteten die Zuhörer auf meine Antwort.
„Nein, natürlich nicht. Er war auch nicht ertrunken. Er sehnte sich nach seiner Mutter und ging in den Wald, um sie zu suchen. Sie musste einfach dort sein, wo sonst hätte sie hingehen können? Louis blieb im Wald. Er fand zwar dort seine Mutter nicht aber er fand Geborgenheit. Die Bäume gaben ihm Schutz, die Beeren, Pilze und Wurzeln nährten ihn, die Vögel versorgten ihn mit einem Bett aus Federn, der Fuchs schenkte ihm ab und zu ein Huhn, Wind, Wolken und Sonne lehrten ihn, das Wetter vorherzusagen und sich rechtzeitig Schutz zu beschaffen, die Bienen gaben ihm Honig, und der Bach stillte seinen Durst. Da er niemand ein Leid antat, vertrauten ihm die Bewohner des Waldes. Er wurde einer von ihnen und begann, ihre Sprache zu verstehen. Er fühlte, wie die Jahreszeit sich veränderte an der Wärme des Erdbodens. Er blieb im Wald, zweimal sieben Jahre.“
„Alter, komm doch endlich zu dem Fremden! Rede doch nicht so lange herum“, kam ein ungeduldiger Einwurf.
„Ich kann dir den Schluss verraten. Willst du das?“
„Nein, bitte nicht. Ich will alles hören“, sagte ein Anderer.
„Wieso blieb er nicht immer im Wald“, kam die nächste Frage.

„Louis badete in einem See“, fuhr ich fort „der von dem Bach gespeist wurde, als er eine junge Frau entdeckte, die das selbe zu tun gedachte.
Er versteckte sich und beobachtete sie so, wie er den Wildkaninchen beim Spielen zu sah. Sie hatte langes, gewelltes Haar, das ihr bis zu den Hüften reichte. Nachdem sie sich aller Kleidung entledigt hatte, ging sie vorsichtig in das Wasser, beugte sich, und bespritze sich mit den Händen. Dann glitt sie in den See hinein, in ihrer Anmut nicht ungleich den Fischen.
Louis, verborgen zwischen dem Schilf, beobachtete sie weiter, jedoch anders als zuvor die Wildkaninchen. Eine Frau. Eine Frau hier, bei ihm in Wald. Es war nicht die Mutter, die schon längst in seinem Gedächtnis zu einem liebevollen Nebel geworden war. Er erinnerte sich jedoch an ihre Wärme, ihre Liebe. Und Sehnsucht nach einem Leben außerhalb des Waldes ergriff ihn. Ich erspare euch die Zeit der Annäherung und schließlich und letztendlich der Begegnung dieser zwei Menschen. Ich kann euch jedoch sagen, dass der Fremde der Sohn dieses Mädchens und Louis ist. Weshalb Louis starb, erzähle ich euch nächste Nacht, am Feuer.“
Die Geschichte hatte sich im Dorf morgens an den Brunnen schnell verbreitet, mittags wurde sie in den Häusern erzählt und abends drängten sich die Dorfbewohner, um die Fortsetzung zu hören. Als das Feuer brannte fuhr ich mit der Geschichte fort.
„Sie trug sein Kind, und in seiner Liebe zu ihr und dem werdenden Leben verließen sie die Wälder. Mehr denn je glaubten die Bewohner des Dorfes an der Küste daran, dass er des Teufels sein musste. Wie konnte denn ein Kind 14 Jahre in den Wäldern überleben, wenn es nicht des Teufels wäre? Und seine Augen! Waren sie nicht Beweis genug, dass er nicht von ihrem Blute war? Doch wäre es nur das gewesen, sie hätten ihn vielleicht aus Angst geduldet. Doch er hatte ein Mädchen aus ihrer Gemeinschaft geschändet, die Rundungen des Leibes ließen sich nicht mehr verbergen.
Als seine geliebte Frau im siebten Monat schwanger war, geschah das Ungeheuerliche. Eine Gruppe von Fünfen schlich sich in die Hütte am Randes des Dorfes, in der Wolf und ich Jahrzehnte danach eine Heimstätte gefunden hatten. Deshalb stand sie wohl leer. Im Schlaf überwältigten sie Louis, den sie inzwischen im Dorf „Le Lou“ genannt hatten, das Biest, den gefährlichen Wolf. Sie waren so beschäftigt damit, immer wieder auf ihn einzuschlagen, dass sie die Flucht des Mädchens übersahen. Sie rannte zum Strand, nahm eines der Boote und übergab sich dem Meer. Sie erschlugen Louis, zerstückelten ihn und fütterten mit seinen Resten die Fische.

Das Verschwinden des Mädchens deuteten sie als eine Rechtfertigung ihrer Tat. Auch sie hatte der Teufel zu sich geholt.

Sie erreichte die nächste Insel und gebar ihren Sohn, den sie nach dem Vater Louis taufte. Er war seines Vaters Ebenbild, sogar bis hin zu den zwei verschiedenen Augen. Sie und ihr Kind waren Geduldete auf dieser Insel, niemals mehr. Das Kind in seiner Andersartigkeit machte den Inselbewohnern Angst. Da sie sich jedoch immer nur freundlich verhielten und die Mutter den Inselbewohnern half bei Krankheiten mit ihren Kräutermixturen (das hatte sie von Louis gelernt), ließ man sie und das Kind in Frieden. Als der Junge alt genug war, um nach seinem Vater zu fragen, erzählte sie ihm ihre Liebes- und Leidensgeschichte. Als Louis sieben Jahre alt war, schwor er, den Vater zu rächen. Als seine Mutter starb und ihn nichts mehr auf der Insel hielt, machte er sich auf, um seinen Beschluss in die Tat umzusetzen.
Und so kam er auf die Insel als schiffbrüchiger Racheengel, der von den Frauen mit Kräutermixturen gesund gepflegt wurde. So begann es, dass sich das Dorf in zwei Lager spaltete.

Louis der Sohn ging nach seiner Genesung sehr geschickt vor, wusste er doch von der Mutter um die Ängste der Menschen. Er benutzte diese Ängste, um ihm selbst zu nützen.
„Le Lou“, sagte er „ist bei euch eine Legende. Ich habe sie gehört. Ich heiße Louis. Glaubt mir, ich habe nichts von einem Wolf“, lachte er die Bewohner des Küstendorfes an. „Glaubt ihr wirklich ich sei ein Wolf? Grrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr, gleich fresse ich euch!“ Er brachte die Kinder zum Lachen mit seinem strahlendem Lächeln und den weißen Zähnen. „Grrrrrrrrrrrrrrrrrr, ich bin der böse Wolf! Gleich fresse ich euch“, rannte er mit ausgestreckten Händen auf die Kinder zu und kitzelte sie am Bauch, bis sie kaum Luft bekamen vor Lachen. Schnell waren die Menschen bereit, Louis bei sich aufnehmen—vielleicht auch aus der alten Schuld heraus, einen anderen Menschen hingerichtet zu haben. Louis erwarb sich die Zuneigung der Kinder, der Frauen und auch der Männer. Hauptsächlich der Männer, die dem Dorfältesten die Krätze an den Leib wünschten. In jedem Dorf gibt es Meinungen, die nicht mit dem Ältesten übereinstimmen. Das kennt ihr doch selbst! Louis begann einfühlsam, auf die ewig Nichtverstandenen Einfluss zu nehmen. „Ihr habt doch Recht damit, euch über die Ansprüche der anderen Inseln auf die Fischgründe zu empören! Weshalb wehrt ihr euch dann nicht? Was? Der Ältestenrat sagt, ihr sollt Frieden bewahren? Und eure Frauen und Kinder? Brauchen die nichts in die Bäuche?“ So spaltete sich das Dorf in jene, die Louis Recht gaben und jene, die dem Rat der Ältesten folgen wollten. Beide Parteien waren in gutem Glauben, das Rechte für die Gemeinschaft zu tun. Alles zum Wohle des Dorfes, für die Zukunft der Kinder.
Ich war am Rande des Geschehens, wollte nur die Wintermonate hier verbringen und befand mich mitten im Geschehen.
„Alter, du bist nicht von hier. Was meinst du?“
„Alter, ist es wirklich so? Sollen wir gegen die anderen Inseln ziehen?“
Mein „Alles ist richtig, wie es ist. Weil es ist“, stieß auf Unverständnis. Das Polarisieren hatte begonnen.
„Was meinst du damit“, wurde ich gefragt.
„Wenn ihr gegen die anderen Inseln zieht, so ist es euer gemeinsamer Entschluss. Wenn ihr dies nicht tut, ist es auch euer gemeinsamer Entschluss. Ihr entscheidet. Nicht ich für euch“, versuchte ich zu erklären.
„Gib uns einen Rat. Eines von Beiden muss doch richtig sein?“
„Beides ist richtig. Es ist eure Wahl, ihr entscheidet selbst, welchen Weg ihr geht.“
„Alter, natürlich geht es um eine Entscheidung. Wir wollen von dir wissen, welche wir treffen sollen“, stieß ich auf Unverständnis.
So suchten beide Lager meinen Rat.
Und bald war ich ebenso umstritten wie der Rat, den ich ihnen nicht geben wollte und auch nicht geben konnte. Ich war am Rande und doch mitten im Geschehen. Ich fragte mich: „Was ist meine Aufgabe hier? Was habe ich, Gerard, hier zu lernen? Nichteinmischung?“

Ich wusste es nicht.

Ich sah deutlich, was Louis vorhatte, wie er eine Gemeinschaft in Lager spaltete. Ich sah auch seinen Grund. Und ich fühlte mit ihm und ich verstand seinen Schmerz.

„Wie hast du dich entschieden?“ fragte ein junger Mann. Irgend etwas musst du doch getan haben!“
„Ja, ich habe etwas getan. Ich bat um Hilfe. Ich bat meinen allmächtigen Geist, mir den Weg zu zeigen. Ich bat: „Hilf mir. Ich weiß nicht weiter.“ Die Hilfe kam, so dachte ich, in Gestalt einer alten Frau, die sich Louis in den Weg stellte, als er seinen Anhängern predigte, was denn Recht und Unrecht sei.

„Du heißt also Louis. So, wie unser Louis, Louis „Le Lou“, der vor Jahrzehnten in diesem Dorf zu Hause war?“
“Ein Zufall, nichts anderes“, entgegnete er mit einem Lachen.
„So so, ein Zufall. Genau wie deine Augen! Könnte es sein, dass du sein eigen Fleisch und Blut bist? Das Alter könnte stimmen! Die Schwangere wurde niemals gefunden.“
„Alte, was faselst du?“
„Ich sage, dass du Le Lous Sohn bist. Ich sage, dass du nicht ein Wolf sondern eine Schlange bist, die unsere Gemeinschaft spalten will. Ich sage: Du bist der Sohn von Le Lou, den wir damals auf das Schändlichste getötet haben. Und ich sage: Du willst deine Rache!“
Sie schaute sich um in der Runde der Unzufriedenen.
„Ich frage euch, wollt ihr das Werkzeug seiner Rache sein? Seid ihr blind, dass ihr nicht den Unfrieden seht, den er sät?“
„Wen interessiert schon, wessen Sohn er ist und was damals geschah. Wir leben heute“, entgegnete eine Frau. „Und er weiß genau, wie wir empfinden! Er weiß um unser karges Leben und hat Verständnis für uns! Mit ihm als Führer des Dorfes ginge es uns besser als mit dem Ältesten, der an seinem Stuhl klebt.“
„Jawohl, so ist es. Recht hat Amelie“ wurde die alte Frau niedergeschrieen. Mit einem Schulterzucken wandte diese sich ab. „Dann rennt eben in euer Verderben“.
„Woher willst du das wissen“, wurde ihr nachgerufen.

Das, liebe Dorfbewohner, ist ein mächtiger Satz. „Woher willst du das wissen?“ Es ging nicht um das Wissen, es ging um blinden Glauben und um Fanatismus—ein Gespann, das schon immer die Welt gespalten hat.

„Oh wäre ich doch nie auf diese Insel gekommen“, dachte ich bei mir.

„Warte einen Moment, Alter! Ich lege noch etwas Holz aufs Feuer. Magst du einen Schoppen Wein“, meinte ein Dörfler.
„Als das Holz hell loderte und ich einen kräftigen Schluck Roten genommen hatte, erzählte ich weiter.

„Der Älteste war in meine Hütte gekommen. Er saß mir gegenüber, den Kopf gesenkt, gestützt von der linken Hand, die sein halbes Gesicht bedeckte. „Alter, ich weiß nicht mehr weiter. Was sollen wir nur tun? Soll ich ihm meinen Platz überlassen, ist dann wieder Friede im Dorf? Aber was nützt dies schon“ fuhr er nach einem Seufzer fort. „Was nützt dies, wenn er dann Krieg beginnt und allen im Dorf nur schadet? Wie viele der jungen Männer werden sterben? Wie viele Kinder ohne Vater sein? Er zieht doch dann auch diejenigen in den Krieg mit hinein, die ihn gar nicht wollen! Was soll ich nur tun?“
„Nichts.“
„Wie nichts? Alter, du bist nicht bei Sinnen!“
„Tue nichts, kämpfe nicht gegen den Fremden. Für den Frieden kämpfen, wie soll das gehen? Sei wie das Wasser, fließe um den Baumstamm herum, der sich seinem Fluss entgegenstellt.
Gib den Dorfbewohnern eine Aufgabe. Rufe zum Beispiel einen Wettkampf aus, in dem die Männer ihre Kräfte messen können. Mache eine Siegesfeier, und bitte die Frauen um ihre Mithilfe. Wann wäre ein guter Zeitpunkt dafür?“
„Es ist kein Baumstamm, es ist ein Damm!“
„Du denkst es ist ein Damm, ich denke es ist ein Baumstamm. Was ist dir lieber? Und wann wäre ein guter Zeitpunkt für ein Fest?“
„Der Baumstamm ist mir natürlich lieber“, lachte er laut. Deine List könnte gelingen Alter—es jährt sich die Gründung unseres Dorfes. Vor 150 Jahren besiedelten unsere Vorfahren die Insel. Das ist ein guter Grund, ein Fest zu feiern. Wir könnten auch ein Schauspiel machen, wie unsere Vorväter hier ankamen, wie sie sich behaupteten gegen die See, wie das Dorf entstand und ...“
„Ja“, lächelte ich ihn ermutigend an. „Geh, rufe den Rat zusammen und plant euer Fest. Und vergiss den Wettkampf nicht—ihr könntet ja um die Wette rudern, wer zuerst die Insel erreicht.“
„Eine gute Idee, Alter“, sagte er im Aufstehen und verließ eilig meine Hütte.

„Und“, fragte ein Zuhörer gespannt, „hatte deine List Erfolg?“
„Es war von mir nicht als List gemeint. Aber weshalb hätte ich ihn in seiner Begeisterung unterbrechen sollen? Es ist richtig, wie es ist. Er verstand meinen Vorschlag als List, da er eine List suchte.“
„Wie ging es weiter“, wurde ich zum Erzählen aufgefordert.

„Wir hatten ein großes Fest, von dem noch Generationen berichten werden. Drei Tage und drei Nächte kehrte im Dorf keine Ruhe ein. Wenn die einen sich zum Schlafen niederlegten, standen die anderen schon wieder auf, um weiterzufeiern. Doch lasst mich der Reihe nach erzählen.

Die jungen Männer waren bald damit beschäftigt, so für den Wettkampf zu üben, dass sie keine Zeit mehr hatten, zu Louis Treffen zu kommen. Die Frauen übertrafen sich gegenseitig im Nähen der Kostüme für das Schauspiel, im Vorbereiten des Festtages, im Planen der Speisen. Und abends wurde das Schauspiel geübt. Einer kam auf den Gedanken, doch die benachbarten Inseln einzuladen und so wurden dann Boten ausgeschickt. Es blieb nicht viel Zeit—das Fest sollte in zwei Monden stattfinden. Da gab es viel zu tun! Es gab so viel zu tun, dass für Krieg keine Zeit mehr war“, lächelte ich meine Zuhörer an.

„Was geschah mit Le... äh, Wolfs Sohn? Was tat er?“
„Er blieb bis zum Ende des Festes, feierte mit, lachte mit, vergnügte sich, hörte auf, von Krieg zu reden. Er war ein kluger Kopf. Er erkannte, dass sein Rachefeldzug im Augenblick gescheitert war. Als das Fest vorüber war, verließ er mit Bewohnern einer der Nachbarinseln das Dorf.

Ob er dort den selben Plan verfolgte, nämlich Krieg gegen die Insel auszurufen, entzieht sich meiner Kenntnis. Aber selbst wenn. Die Erinnerung an das Fest bleibt den umliegenden Inselbewohnern noch lange in Erinnerung. Das gemeinsame Lachen und Feiern, Tanzen und Singen, den Wettkampf, die Feuer am Abend, die das Schauspiel erhellten, die glänzenden Augen, die pure Freude—nein meine Freunde, da hat der Hass auf lange Zeit keinen Nährboden.

Auch ich verließ die Insel, da mir der Stand der Sonne wieder Wärme in unseren Landen verkündete. Ich nahm den nächsten Segler, der mich zurück an die Küsten Frankreichs brachte. Von dort aus traten Wolf und ich unsere Wanderung an, begleitet durch den Ruf des Buchfinks, der den Frühling wie jedes Jahr verkündete. Und so bin ich wieder hier, halte mein Gesicht in die Sonne, und höre dem emsigen Summen der Bienen zu. Wolf hat auch wieder abgenommen, die Wanderung tat ihm gut. Ich freue mich jeden Tag über das Leben. Und darüber, dass ihr mit mir am Feuer sitzt und ich euch Geschichten erzählen darf.“

„Warum hast du denn deine Haare wieder abgeschnitten?“

„Ja warum wohl? Ich wollte wissen, was es Neues bei euch gibt. Wo geht das wohl besser als beim Barbier?“