ein Freund

„Eine Seele kann nicht in die Dunkelheit fallen, nicht nach meinem Glauben!“
Als ich in jener November Nacht am Feuer saß, näherte sich mir ein Fremder und bat, sich zu mir ans Feuer setzen zu dürfen.
„Ein Pilger“, dachte ich bei mir, denn er trug die Kutte eines Bettelmönchs. Wolf knurrte kurz, hob den Kopf, fixierte den Fremden, erkannte keine Gefahr, drehte sich und schlief weiter.
Wir teilten unsere Mahlzeit und begannen bald ein lebhaftes Gespräch, das in mir Widerspruch hervorrief.  Er sprach von „der Nacht der Seelen“, in der die Menschheit die Erinnerung an ihr wahres Sein verloren hätte.

„Wir beide haben Recht, du mit deinem Glauben, ich mit meiner Aussage über die Nacht der Seelen“, fuhr er fort.
„Mich gibt es, seitdem es Leben gibt, ich bin Teil der Schöpfung. Ich bin die Vergänglichkeit aller dichten Materie. Jede Kultur hat einen anderen Namen für mich erfunden, hat mich häufig mit Angst belegt.“
„Du bist der Tod“, fragte ich mit einem jähen Erschrecken.
„So nennst du mich und hast sogleich ein Beben in deiner Stimme, obwohl du mich nicht fürchtest. Weshalb?“
„Ist meine Zeit abgelaufen?“
„Du hast ein Bild von mir als dem, der mit der Sichel kommt und Leben erntet. Dieses Bild entstand in Zeiten von großen Seuchen, in denen Menschen „dahin gemäht“ wurden. Dein Glauben und dein Wissen um das, was mit ebenso vielen Namen belegt ist wie ich selbst, hat dir diese Angst vor mir genommen.  Du fragtest dich, weshalb deine Erinnerungen meist „schlimme Leben“ sind, die von Tod, Leid, Schuld, Schmerz, Recht und Unrecht handeln. Ich versuche, dir eine Antwort zu geben, die jedoch nur so sein kann, wie deine menschliche Existenz es dir erlaubt zu verstehen.
Um unsere Unterhaltung fortsetzen zu können, nenne ich das, aus dem Alles entsteht, den Ursprung, die Verbindung zum Ursprung nenne ich  Seele und die zeitweilige körperliche  Existenz als dichte Materie nenne ich Leben. Bei dem Begriff Leben muss ich unterscheiden zwischen menschlichem Leben—wie in deinem Fall—und nicht-menschlichem Leben, denn dies macht einen Unterschied für die Seele.
Leben findet gleichzeitig in verschiedenen Dichten statt. Die dichteste Existenz ist die des Menschseins.

Wenn du in dein menschliches Leben trittst, beginnt vom Augenblick der Geburt an dein Vergessen um die unlösbare Verbindung zum Ursprung. Diese Illusion der Trennung vom Ursprung ermöglicht dir damit, dich als eigenständige EINheit zu erfahren. Der Körper vergisst auf seinen Pfaden das Gefühl der allumfassenden Liebe.  Zwischen Geburt und Tod liegt sein Vergessen, welches Verlangen erschafft nach Liebe, nach dem Guten. Das Vergessen weckt die Sehnsucht und das Verlangen nach dem, von dem die Seele weiß, dass „es“ existiert und der Mensch glaubt, es verloren zu haben. Dies ist die Quelle allen Leidens.

Der Mensch versucht, dieses Gefühl der allumfassenden Liebe in sein Leben zu holen. Er sucht die Liebe im anderen Menschen, der wie er selbst die Liebe und das Gute sucht. Dabei kann eine Verbindung entstehen, die das ganze Leben dieser Menschen aufrecht erhalten wird  und die häufig auch über den Tod der physischen Existenzen weiter besteht. Dies kann zwischen allen Menschen geschehen, nicht nur zwischen einem „Liebespaar“. Ihr nennt dieses Seelenpartner.
Der Begriff Seelenpartner entspricht jedoch der Annahme, eine eigenständige Einheit zu sein. Trotzdem stimmt er irgendwie, denn ihr steht auch in einem Leben  der „dünneren“ Materie (oder mehreren) in Verbindung. Deshalb habt ihr auch das Gefühl, den oder die Anderen lange und gut zu kennen. Das Leben in weniger dichter Materie läuft anders als das in der dichten menschlichen Existenz: Ihr wisst alle voneinander, kennt die Gefühle, die Gedanken jeder selbstständigen Einheit und bildet so wiederum eine gemeinsame Einheit—zu vergleichen mit einem Organismus, in dem der Kopf die Erinnerungen aller Körperteile vereinigt.“

„Du sagst, wir leben gleichzeitig verschiedene Leben, nur in mehr oder weniger Dichte“, warf ich schnell ein.
„Nein, so meine ich es nicht. Versuche deine Erfahrung von Zeit zu vergessen. Ihr lebt das gleiche Leben in verschieden Manifestationen. Der Unterschied ist das Wissen um die Verbundenheit mit dem Ursprung. In den „dünneren“ Manifestationen hast du das Wissen um alle Leben, die du jemals lebst und du hast auch das Wissen, mit wem du sie lebst und was die Ziele sind, die ihr gemeinsam habt. Dort löst sich auch der Knoten von „schlecht und gut“, von „Schuld und Sühne“, von „falsch und richtig“. Es gibt keine Bewertung, keine Dualität.“

„Meine Erinnerungen an Leben, die meist gewalttätig waren, oder in denen mir Gewalt widerfahren ist“, wollte ich auf den Ursprung meiner Frage zurückkommen.
„Habe noch einen Augenblick Geduld“ sagte mein Gesprächspartner und hob das erstemal das Gesicht, um mich anzusehen.
Es war kein Gesicht. Ein unsäglich helles und doch nicht blendendes Licht umgab mich. Ich wurde durchflutet von einem Gefühl jenseits all dessen, was wir Liebe nennen. Liebe, Verständnis, Mitleid, Vergebung, Scham, Minderwertigkeit, Schuld, Hass, Angst, Verzweiflung, Glück—die Liste meiner Gefühle könnte die Geschichte der Menschheit beschreiben.
Als er, mein Freund der Tod, sein Gesicht hob, wusste ich, dass ich mit ihm gehen wollte. Alles war gut, alles war gleichwertig. Nichts ist zu vergeben, nichts zu bewerten. „Wenn deine Zeit gekommen ist, Alter“, höre ich diese sanfte Stimme, die mir im Dunkel jener Nacht das Licht schenkte.

„Ja Alter, nichts ist zu vergeben, nichts zu bewerten“, fuhr er nach einer Pause fort. „Es wurde euch vor langer Zeit gesagt, dass jeder Gedanke, jede Aussage, jede Handlung auf zwei Gefühle zurückzuführen ist: Liebe und Angst. Das ist jedoch auch nur richtig für eure Welt. Die Angst ist ein Kind der Liebe. Es gibt in jeglicher Existenz nur einen einzigen Baustein, aus dem alles erschaffen wird. Das ist der Baustein der Liebe. Die Liebe ist deshalb auch der Nährboden eurer Angst.“
„Wie kann das sein, dass die Liebe die Angst nährt“, fragte ich ungläubig.
„Ich sagte dir schon, dass zwischen Geburt und Tod die Zeit des Vergessens liegt. Es beginnt auch die Zeitspanne der Dualität. Angst kannst du nur empfinden, wenn du dich getrennt fühlst von dem, was ist. Was wäre also ein besserer Gegensatz zur Liebe als die Angst? Es gibt viele Möglichkeiten, wie du der Angst Ausdruck verleihen kannst.“

„Ist nicht Hass Gegensatz der Liebe?“
„Worauf beruht denn Hass? Hass entsteht aus einer vermeintlichen Verletzung von Gefühlen. Er beginnt damit, dass du die Handlungen anderer bewertest. Deine Bewertungen werden immer auf deinen Erfahrungen beruhen. Aber was ist das eigentliche, das dahinter liegende Gefühl bei Hass?“
„Die Abwesenheit von Liebe?“ Ich wusste nicht, worauf er hinaus wollte.
„Es ist der Mangel an Liebe zu sich selbst und zu den Mitmenschen, der einen Menschen in den Neid, die Verzweiflung, das Misstrauen und schließlich in die Einsamkeit und den Hass treibt. Der Mangel und letztendlich die ewige Angst darum, nicht geliebt zu werden, machen süchtig nach der Zuneigung anderer Wesen. Die Sehnsucht nach dem Guten und Schönen wurde wieder und wieder nicht erfüllt. Zurück bleibt ein Leben in Dunkelheit, das ich als „die Nacht der Seelen“ beschreibe. Die Verbindung zum Ursprung, die Seele, vergisst niemals. Tief im Unbewussten des Menschen versucht sie, die Verbindung wieder in eure Existenz zu bringen. Die Seele möchte während des Lebens die Verbindung zum Ursprung ins Bewusstsein bringen. „Sein Herz finden“ nanntest du es selbst einmal, Alter. Dies bedeutet nichts anderes, als Zugang zum Ursprung zu finden. Dann hat die Seele ihr Ziel erreicht. Dann beginnt die Zeit, in der mehr und mehr Freude die Dunkelheit erhellt.“

„Was ist mit Macht? Ist Machtausübung über andere nicht ein Gegenteil von Liebe?“
„Wenn ein Mensch über andere Wesen Macht ausübt, will er die Kontrolle haben. Der Wunsch nach Kontrolle beruht auf Angst.  Macht und Kontrolle erschaffen die Illusion von Freiheit. Ich sage dir: Ein Herrscher hat weniger Freiheit als sein geringster Sklave! Freiheit bedeutet nicht Unabhängigkeit. Freiheit bedeutet,  dich selbst zu lieben. Dann bist du frei, auch wenn du ein Sklave bist. Dann kann dich kein Unrat, keine Verleumdung, kein Hass und kein Mangel berühren. Wenn du ein Herrscher sein willst, beginne bei dir selbst.  Hilf deiner Seele, ihr Ziel zu erreichen.“

„Ich habe immer noch nicht verstanden, wie der Nährboden für Angst die Liebe sein soll. Du sagst, „Liebe dich selbst“, würde ich dann nicht noch mehr Angst empfinden, weil ich mehr liebe?“
„Die Liebe ist der Nährboden alles Seins. Sie ist die Luft, die du atmest, sie ist die Nahrung, die du zu dir nimmst. Sie ist der Stern am Himmel. Sie ist die kleinste und die größte Einheit. Sie ist alles, aus dem alles ist. Ihr habt es nur vergessen durch das, was ihr Leben nennt. Nimm deine eigene Sehnsucht nach der allumfassenden Liebe. Nimm deine Qual, die dem Gefühl entspringt, keine Liebe zu erhalten. Nimm deine Suche im Außen. Nimm all deine Wünsche und Ängste. Trete einen großen Schritt zurück. Sage mir, was ist der Nährboden der Angst?“

Ich musste lachen. „Die Angst, die allumfassende Liebe verloren zu haben, nährt alle anderen Ängste! Die Sehnsucht nach Liebe nährt die Angst. Jetzt verstehe ich, weshalb du sagst, die Liebe nährt die Angst. Ist es jedoch nicht eher die Sehnsucht nach Liebe, die unsere Ängste hervorruft?“

„Sehnsucht entspringt der Illusion von Trennung.  Es beginnt schon, ehe du überhaupt deinen Mutterleib verlässt. Es beginnt mit dem Entschluss, in die dichte Materie einzugehen. Ich weiß, dass du Bäume sehr liebst. Lass mich das Bild eines Baumes verwenden.
Dein Entschluss, in ein Leben zu gehen, ist der Samen, der in die Erde gelegt wird. Die Zeit im Mutterleib ist vergleichbar mit seinem Keimen, der Durchbruch durch die warme Frühlingserde ist die Geburt. Anfangs ist die Erinnerung noch stark und der kleine Baum wächst und gedeiht. Manchmal entscheidet er sich auch um und beschließt, doch nicht in ein Leben zu gehen. Meist jedoch bildet die Kindheit den Stamm und stärkt die Wurzeln. Mit jedem Jahr, mit jeder Erfahrung prägen sich neue Äste aus. Die beglückenden Erfahrungen stärken den Stamm und die Wurzeln. Enttäuschungen und Tränen bilden die Äste und Blätter der Angst. Mit jeder Angst wird der Baum knorriger. Berührt nun ein Wesen einen Zweig auf diesem Baum, dann weiß der Baum sogleich: „Ach ja, diesen Zweig habe ich gebildet, als ich DAS erlebte“, und erinnert sich an jedes Gefühl. Durch mehrfaches Erleben eines Gefühls werden die Äste gestärkt. Und so erhält der Baum im Laufe seines Lebens Leitäste und Nebenäste von immer wieder erlebten Gefühlen. Wenn er alle Gefühle erlebt hat, derentwegen er ins Leben kam, kehrt er zurück zum Ursprung. Die Nahrung des Baumes ist jedoch immer die Liebe, aus der er kam.“

„Weshalb? Weshalb gehen wir durch dieses Vergessen? Weshalb und wozu leben wir Leben, in denen so viele Verletzungen geschehen? Weshalb können wir nicht junge starke Bäume ausbilden, deren Leitäste die Liebe sind?“

„Denken, reden, handeln. Das waren die Schritte jeglicher Schöpfung. Durch Leben wird ein vierter Schritt hinzugefügt, der der Gefühle. Vor dem Gedanken steht jetzt das auslösende Gefühl des Gedankens. Füge noch Worte und Handlungen hinzu, und du erschaffst Leben.
Mit jedem starken Gefühl, das dich zum Denken, Reden und Handeln bringt, bist du Erschaffer deiner Gegenwart. Jeden Tag aufs neue änderst du die Richtung, da du dir nicht bewusst bist, dass DEINE Gefühle der Beginn deiner Schöpfung sind. Und gemeinsam erschafft ihr das, was ihr auf eurer Erde erlebt. Ihr wisst nicht um die Macht eurer Gefühle, eures Denkens, eures Redens und eures Handelns. Ihr fleht zu Gott um Frieden—und erschafft das Chaos durch eure Angst. Nichts geschieht euch—ihr erschafft alles selbst.“

„Dies erschreckt mich! Wie kann ich denn jemals Kontrolle über meine Gefühle erhalten?“

„Du denkst immer wieder im Konzept der Angst. Erinnerst du dich? Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst. Als dich selbst—verstehst du? Du lehnst dich ab. Du machst dich klein. Du bist dein eigener Feind. Wie siehst du dann deinen Nächsten auf deinem Baum der Angst? Und was erfährst du durch ihn? Welche Zweige fügst du deinem Baum hinzu? Glück, Lachen, Freude, oder gar Liebe?

In der Freude und im Lachen bist du deiner wahren Natur am nächsten. Lache aus ganzem Herzen! Wenn dich deine Gefühle schütteln, rufe deine Gedanken zurück. Bewerte nicht, handle nicht—erschaffe nichts aus dem Gefühl der Angst heraus.

Finde etwas, was dich zum Lachen bringt. Befreie dein Lachen aus seinem schwermütigen Gefängnis. Du kannst es. Lache! Und fühle, wie du glücklich bist. In genau diesem einen Augenblick hast du keine Angst. Das ist das Gefühl, das Ordnung in das Chaos bringt.“

„Es ist so einfach“, dachte ich bei mir und fühlte, wie tief aus meinem Inneren heraus ein Lachen aufstieg. Bei meinem „Hohohohoooooooooooooo“ aus ganzem Herzen weckte ich Wolf, der mich Schwanz wedelnd anlachte.

Es stimmt. Wenn ich lache, bin ich eins mit dem Leben.