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Ich begegnete ihm auf der letzten Wanderschaft.
Seine Sätze beginnen meist mit „Ja, damals, als ....“ oder mit „Ihr werdet schon noch sehen....“ Mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand stößt er mehrmals vehement in die Luft, um seinen Worten Gewicht zu verleihen.
Er erzählt Geschichten, so wie ich auch. Ich traf ihn dort, wo man sich meist begegnet in einem fremden Dorf: in der Schenke, bei einer warmen Mahlzeit, bei einem Becher Wein.
Er saß alleine an einem Tisch, was ungewöhnlich war. Die Schenke war gut besucht, einige Gäste standen.
„Ihr werdet schon noch sehen, eines Tages kommt der Oberst zurück und holt mich zu sich auf das Gut. So ist er, mein Herr! Ja, ja, lacht nur. Wer zuletzt lacht, lacht am Besten“, rief er unbestimmt in die Menge.
„Ja ja, eines schönen Tages findest du den Topf voll Gold am Ende des Regenbogens“, lachte ihn ein Dorfbewohner aus.
„Was wisst ihr schon von damals? Wer von euch hat denn jemals dieses armselige Dorf verlassen? Na? Wer denn?“
„Und wer kam abgerissen und krank in unser Dorf zurück? Wer war denn froh, dass er einen Platz im Stall fand? Halt doch endlich das Maul, Otto! Nichts als Spinnereien hast du mitgebracht. Dein Herr, der Oberst. Auf den kannst du so lange warten bis du schwarz wirst!“

Der Sprecher drehte ihm den Rücken zu und schimpfte noch einmal unüberhörbar „Der und ein Held! Wie heldenhaft ist es denn, in den Krieg zu ziehen, weil er eine Magd geschwängert hatte? Aber das vergisst unser großer Held!“
„Was fällt dir ein, du....“ er war im Begriff, einen handfesten Streit zu beginnen, als ich ihm in den Arm fiel.
„Ich bin fremd hier und ich bin auch viel herumgekommen. Erzähl mir von deinem Herren, vielleicht ist er mir ja begegnet.“
„Feiglinge sind sie allemal. Diese jungen Burschen, die meinen, ihnen gehöre die Welt. Sie sollen erst mal das erleben, was ich schon erlebt habe. Dann können sie mitreden.!“

Er ließ sich nieder und ich setzte mich zu ihm. Sein Gesicht war zerfurcht, und hatte längere Zeit kein Rasiermesser gesehen. Die Haare, grau und schütter, standen ab vom Kopf, als teilten sie die Empörung ihres Trägers. Eine Narbe durchzog seine rechte Wange wie ein Fluss, der die Bartstoppel in ein rechtes und linkes Ufer teilte. Geplatzte Blutgefäße ließen seine Nase rot hervorstechen als den einzigen Farbtupfer dieser grauen Erscheinung.
Was mag er erlebt haben, dachte ich und bat ihn aus dem Augenblick heraus:
„Erzähl mir dein Leben, Veteran. Du scheinst viel erlebt zu haben.“
„Mein Leben. Wen interessiert das schon?!“ er spuckte aus und stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch, um sich zu erheben.
„Bleib hier, ich schenke dir einen Becher Wein!“ Er ließ sich zurück auf die Bank fallen.
„Mein Leben?! Was willst du hören“, fragte er bitter. „Meine Heldengeschichten, damit du sie weitererzählen kannst? Oder meine Träume, von denen nichts übrigblieb als dies hier“, fragte er und zeigte mit einer ausholenden Bewegung in die Runde. „Mein Leben. Mein gottverdammtes Leben. Wo war er denn, der Herr Gott, als mir fast mein Gesicht weggeschnitten wurde? Wo war er denn, als Tausende von uns ihr Leben ließen auf dem Schlachtfeld? Oder verhungerten? Oder erfroren?“
„Du lebst, du bist hier. Du bist nicht erschlagen, noch verhungert, noch erfroren. Du kamst zurück.“
„Ich kam zurück, weil ich nicht wusste, wo ich sonst hingehen sollte. Deshalb kam ich zurück. Wie ein durchgegangenes Pferd, das lange genug gelaufen ist, das den Stall wittert. So kam ich zurück. Im Stall durfte ich ja dann auch bleiben.“
„Weshalb lachen die Dorfbewohner dich aus?“
„Was weiß ich“, murrte er.
„Aus den Sätzen vorhin vermeinte ich zu vernehmen, dass du auf den Oberst wartest.“
„Ja, der Oberst. Ein feiner Herr. Von Adel ist er. Er versprach mir einst: „Otto, wenn dies hier alles zu Ende ist, dann kommst du zu mir auf das Gut. Dann wirst du mein Stallmeister, Otto!“ Wenn er noch lebt, dann macht er das auch.“
„Du glaubst nicht daran, dass er noch lebt?“
„Nein, ich habe die Hoffnung inzwischen aufgegeben, dass er kommt. Ich habe so viele Winter gewartet.“

„Was hast du gemacht, während du auf ihn gewartet hast?“
Er schaute mich verblüfft an ob dieser Frage.
„Na gewartet, was denn sonst? Was hätte ich denn tun können?“
„Weißt du, wo der Oberst sein Gut hat?“
„Natürlich. Aber der Oberst hat mich hier aus diesem Dorf mitgenommen, er weiß woher ich stamme. Deshalb kam ich ja wieder zurück! Der Oberst holt mich, wenn er noch lebt, ganz gewiss tut er das!“
„Du sagst, du wartest schon viele Winter. Gibt es einen Grund, weshalb du dich nicht auf den Weg zu ihm aufgemacht hast?“
„Und was, wenn er gerade dann hier vorbeigekommen wäre? Gerade dann, wenn ich weg bin? Nein, nein. Das ist nicht gut. Es ist besser, hier zu warten.“
„Womit verdienst du dir deine Kleidung, dein Essen? Welches Handwerk übst du aus?“
„Handwerk? Ich miste die Ställe aus, dafür bekomme ich zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Und hie und da bekomme ich eine Münze von Fremden, oder einen Becher Wein, so wie von dir, wenn ich über meine Abenteuer erzähle. Die Dorfbewohner neiden mir das. Sie sagen, ich würde betteln. Aber was soll denn deine Fragerei? Wolltest du nicht meine Geschichten hören?“

„Hört nicht auf ihn, Fremder! Der alte Otto erzählt immer die selben Geschichten, die er jedesmal neu erfindet. Ein alter Säufer ist er, unser Kriegsheld!“
Ich legte beruhigend meine Hand auf Ottos Arm und entgegnete: „Ich höre ihm gerne zu, Wirt und fühle mich nicht belästigt. Bringt uns noch zwei Becher Wein.“
„Der Wein löst seine Zunge, Fremder. Gebt ihm nicht zu viel davon! Sonst fabuliert er wieder die ganze Nacht.“

„Veteran, darf ich dich Otto nennen? Ich heiße Felix!“ Wir stießen mit den frisch gefüllten Bechern an und ich fuhr fort, über meine Fragen mehr von Otto zu erfahren.

„Denkst du viel an die Vergangenheit, Otto?“
„Du stellst Fragen“, meinte er kopfschüttelnd. „Natürlich denke ich oft an meine Vergangenheit. Nachts quälen mich die Bilder, höre ich die Schreie sterbender Pferde. Weißt du, wie ein Pferd in Todesangst schreien kann? Weißt du das Felix? Ich weiß es.
Und weißt du, wie es ist, wenn du das Klingen von aufeinander treffendem Stahl hörst, wenn dir das warme Blut deines Gegners ins Gesicht spritzt, den du im Zweikampf erstichst? Ich weiß es.
Was weißt du von Kameradschaft, Felix, hast du schon mit einem Kameraden Rücken an Rücken dein Leben verteidigt? Ich schon.
Es waren schlimme Zeiten. Dennoch habe ich in diesen Zeiten mehr Zusammenhalt, mehr Freundschaft verspürt als jemals wieder danach. Der Feind hat dies vollbracht. Während der Schlacht gab es keinen Schmerz um die gefallenen Kameraden. Nach der Schlacht auch nicht. Wenn wir gewannen, sangen und tranken wir. Wenn wir verloren, tranken wir nur. Und nachts in den Träumen kommen die toten Kameraden zu Besuch. Jede Nacht kommen mehr und mehr. Deshalb tranken wir bis zur Betäubung. Dann kommen die Träume nicht.“

Er schwieg und ich unterbrach seine Gedanken nicht. „Und du fragst mich, ob ich an meine Vergangenheit denke“, fuhr er bitter fort. „Sie lässt mich nicht los, Felix. Sie lässt mich nicht los.“ Er trank den Becher Wein in einem Zuge leer.
„Genug davon. Lass mich dir lieber mein Abenteuer erzählen, wie ich den Oberst gerettet habe. Das war hinter den Linien, weißt du. Der Oberst war vermisst, keiner hatte ihn mehr gesehen, nachdem er einen Dragoner verfolgt hatte. Er ritt den Braunen an jenem Tag, obwohl er sonst....“

„Otto, erzähl mir diese Geschichte etwas später. Ich möchte noch mehr über dich hören. Einverstanden“, unterbrach ich seinen Redefluss.
„Über mich gibt es nichts zu sagen. Das solltest du inzwischen wissen. Gib mir noch einen Becher Wein und dann frag mich eben noch weiter aus.“
„Du sagtest vorhin, die Dorfbewohner neiden dir die Münze oder den Becher Wein, den du erhältst. Warum glaubst du das?“
„Ist dir nicht aufgefallen, Felix, wie sie mich hier anschauen? Jetzt gerade wieder. Nur weil du mir Wein schenkst und ihnen nicht. Ist das denn etwa kein Neid?“

„Nein Otto, es ist kein Neid“, meinte der Wirt, der Ottos Becher füllte. „Du tust uns leid, Otto, du und dein ganzes verpfuschtes Leben. Und wir schämen uns für dich, wenn du Fremde anbettelst bis du einen Vollrausch hast und wir dich dann wieder in den Stall schleppen müssen. Glaubst du denn, das macht uns Spaß? Die Nacht ist dann so gnädig, dass sie dich das vergessen lässt, Otto. Du wachst auf und weißt nichts mehr. Wir vergessen es jedoch nicht.“

„Lasst es gut sein, Wirt. Bringt uns noch einen Laib Brot und einen Aufstrich dazu.“ Ich drückte ihm ein paar Münzen in die Hand und wandte mich wieder Otto zu, der nicht wusste, ober er schreien oder weinen sollte.
„Ich geh dann wohl besser dahin, wo ich hingehöre. In den Stall, zu den Tieren. Die maßregeln mich wenigstens nicht. Denen ist es gleichgültig, ob ich betrunken bin oder nüchtern, stinke oder wohl rieche, guter Laune bin oder schlechter Laune. Hier bin ich nicht willkommen. Wer will mich denn überhaupt noch?“ Es war mehr ein Selbstgespräch denn eine Frage.
„Willst du dich denn, Otto“, fragte ich ihn.
„Ich bin da. Bin nicht gefragt worden, ob ich will. Bin nicht gefragt worden, ob ich dieses Leben will. Ich bin gezeugt und geboren worden, ohne dass ich gefragt wurde. Und du fragst, ob ich mich will. Was soll diese Frage?“
„Ich fragte danach, weil ich das Gefühl habe, dass Otto vor Otto flieht. Lass mich bitte den Versuch machen, dir diesen eigenartigen Satz zu erklären.“

„Nur über einen Becher Wein“, blitzte ein Funken Witz aus Otto hervor. „Wie kann ich vor mir selbst davonlaufen? Das geht doch gar nicht.“
„Das geht auch nicht, irgendwann merkst du, dass du im Kreise rennst. Du rennst vor Otto weg und kommst bei Otto wieder an.“

„Dann kann ich es ja ebenso sein lassen“, lachte er schallend. „Du bist ein lustiger Vogel, Felix! Ich stelle mir das gerade vor.“ Er lachte so heftig, dass sein Becher überschwappte.
„Der Kreis ist die Zeit, Otto. Du machst nichts anderes als auf der Kreislinie herumzurennen, indem du ständig an die Schlachten denkst, dich Nacht für Nacht fragst, ob du nicht den einen oder den anderen hättest retten können. Du hast es aber nicht, Otto. Es trifft dich keine Schuld. Du hast getan, was du getan hast. Du weißt nicht, du kannst nicht wissen, was das Schicksal der anderen ist. Wenn dich die Vergangenheit zu sehr drückt, dann flüchtest du in den bleiernen Schlaf der Trunkenheit. Du machst es auch in die andere Richtung der Zeit. Du lebst in Gedanken für den Tag, an dem irgendwann einmal der Oberst vor dir steht. Anstatt der Mittelpunkt des Kreises „Zeit“ zu sein, rennst du in diesem Kreis herum. Du weißt auch nicht, was dein Schicksal ist. Du kannst es jedoch selbst bestimmen, wenn du im Mittelpunkt deines Kreises stehst. Als Mittelpunkt lebst du den Augenblick, jeden Herzschlag, erfreust dich an allem, was um dich herum geschieht, lässt geschehen, lässt Vergangenheit und Zukunft sein, was sie sind: Ereignisse auf dem Kreis, der dich nicht mehr gefangen hält.“

„Du spinnst, Felix! Da warte ich doch lieber auf den Oberst!“

Der nächste Morgen war ein herrlicher Frühsommertag. Ich packte mein Bündel, pfiff nach Wolf, der vor der Schänke geschlafen hatte und setzte zu meinem gemächlich stetigen Schritt an. Als wir an dem Stall vorbeikamen, hörte ich das laute Schnarchen von Otto.“

„Wie ging es weiter, Geschichtenerzähler? Hat Otto dein Gleichnis vom Kreis verstanden?“
„Hast du es verstanden“, fragte ich, um im gleichen Atemzug fortzufahren, ohne ihm die Gelegenheit für einer Antwort zu geben.
„Ich zog weiter und fand mich in ständigen Gedanken mit dem Vergangenen. Ich bewegte mich selbst auf dem Kreis. Ich hatte mich mit Wolf in den Wald zurückgezogen. Ich weiß es noch genau, als wäre es heute. Still sinnend genieße ich die Laute der Nacht. Das Bächlein neben mir fließt unbeirrt fröhlich-glucksend in seinem steinigen Bett, ihm ist es gleich, ob Tag oder Nacht, ob Krieg oder Frieden. Ich schaue ins Feuer, sehe im Aufflackern hie und da eine verglimmende Mücke, die der Hitze zu nahe kam, wehre mich gleichmütig gegen andere, die sich an meinem Blut erfrischen möchten. Und doch—alles ist unwirklich. Ich bin hier und doch nicht da. Otto, dessen Leben mich auf seine Art berührt. Die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Ich fühle deutlich, wie mich sein Schicksal nicht loslässt. Weshalb, frage ich mich, weshalb berührt mich Otto auf diese eigenartige Weise. Bei Friedhelm wusste ich es sofort. Aber WAS ist es mit Otto? Gedanken gehen durch meinen Kopf, erreichen mein Herz.
Auch du hättest wie Otto leben können“,  vernehme ich leise eine Antwort.
„Ich? Ein Säufer“, fragte ich meine Stimme.
Blind träumend, Felix. Gefangen in deinen Gedanken. Gefangen im Wenn und Aber, gefangen in der Vergangenheit und in den Träumen über die Zukunft.
„Was meinst du damit?“
Aber meine Stimme schwieg.

Lasst mich die Geschichte erzählen, wie sie weiterging nach dem Treffen mit Otto. Am Morgen danach verließen Wolf und ich das Dorf. Beim Vorbeigehen an der Scheune hörten wir Ottos lautes Schnarchen—aber das wisst ihr ja schon.
Die Sonne stand schon hoch am Himmel als wir in das nächst gelegene Dorf einzogen. Ein buntes Treiben regte sich in den kleinen Gassen und neben der allgemeinen Geschäftigkeit vermeinte ich eine gewisse Aufregung zu spüren. Wolf und ich hatten noch nichts gegessen, so entschloss ich mich nach einem halben Tagesmarsch, uns eine kräftige Brotzeit zu gönnen. Ich hatte ausreichend Münzen in der Tasche, die ich über den Tausch von Kräutern auf dem Markt in der Stadt als stillen Notgroschen erhalten hatte und zu bewahren gedachte. „Aber wozu? Der Wald und meine Geschichten ernähren mich—dann kann ich uns auch eine Brotzeit gönnen“, dachte ich bei mir.

So kehrten wir in der Dorfschänke ein, die offenbar gerade erst geöffnet hatte, denn es waren kaum Gäste da. Ganz hinten saß ein großer hagerer Mann, der trotz seines müden und abgekämpften Aussehens etwas Gebieterisches ausstrahlte. Ich setzte mich an einen Tisch in seiner Nähe und bestellte mir ein deftiges Frühstück. Dazu eine Kanne Wasser.
Als ich gerade den ersten Bissen zum Munde führte, richtete sich der Hagere auf, nahm seinen Hut und schickte sich an zu gehen. Als er meinen Tisch passierte, streifte mich sein Blick. Seine Augen waren blau, glasklar wie ein Gebirgssee, lebhaft und doch von einer stillen Traurigkeit erfüllt; Augen, in denen ich die Botschaft eines wechselvollen Leben zu lesen ahnte. Ich hatte ihn wohl angestarrt, denn ein verstecktes Lächeln huschte über sein Gesicht. Unwillkürlich lächelte ich zurück und nickte ein wenig. Er hielt in seinem Schritt inne und wandte sich mir zu.
„Haben wir uns schon einmal gesehen“, fragte er mich fordernd, befehlsgewohnt.
„Mag sein. Ich komme viel herum. Wart ihr vielleicht im Krieg“, antwortete ich ihm ruhig.
„Wer nicht“,  sagte er und ich glaubte zu spüren, wie er in seinen Erinnerungen grub.
„Es ist auch nicht wichtig ob wir uns kennen oder nicht“, fuhr er fort und machte Anstalten weiterzugehen.
„Herr, wartet einen Augenblick, es ist wichtig für mich! Bitte setzt euch einen Augenblick zu mir—außer, wenn ihr in Eile seid“, warf ich schnell ein.
Er zögerte, dann nahm sich einen Stuhl und setzte sich zu mir an den Tisch.
„Eile? Nein! Aber es treibt mich zurück zu meinem Gut. Ich will wissen, ob es mein Gut noch gibt. Vielleicht doch in Eile. Sag, was willst du wissen, Alter!“  
„Ich hörte viele Geschichten über den Krieg. Gerade gestern Nacht erzählte mir ein Veteran über seinen Oberst, auf den er heute noch wartet. Sie hat mich berührt, seine Geschichte.“
„Der Krieg“,  begann er und machte eine Pause. „Was weißt du vom Krieg?“
Er stierte vor sich hin, war in den Erinnerungen an vergangene Tage. Ich unterbrach die Bilder seiner Erinnerung nicht, selbst noch beschäftigt mit Otto und der Hoffnung, Ottos Oberst getroffen zu haben. So schwiegen wir beide, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Er brach das Schweigen.
„Ja, ich war im Krieg. Ich habe diesen Feldzug mitgemacht, in dem uns der Winter gnadenlos unsere Grenzen setzte. Es waren nicht nur die Schlachten, Alter. Es war der Winter, der unsere Kräfte aufzehrte, dieser gnadenlose Winter, der uns die Pferde fressen ließ.“
„Die Pferde“, fuhr er fort, „die uns in blindem Vertrauen durch das Gemetzel trugen. Du willst das nicht wissen, Alter! Es sind keine schönen Erinnerungen. Was weißt du schon vom Krieg, Alter“, machte er Anstalten zu gehen.
„Nur, was mir Andere erzählten—ich war im Kloster zu jener Zeit. Doch dann, wenn sie erzählen, höre ich den Klang der Kanonen, die Schreie der Verwundeten, das Wiehern sterbender Pferde. Dann hör ich die Schlacht von damals.“
„Der Wahnsinnige“, spuckte er aus. „Eine Schlacht gewinnt keinen Krieg! Ich habe viele gute Männer verloren“, sagte er auf seinem Weg zur Tür.
„Haltet ein! Bleibt“, rief ich ihm zu.
„Wozu auch“, murmelte er und verließ endgültig die Gaststube.
„Kennt ihr einen Otto, einen Veteran“, rief ich ihm hinterher. Doch meine Stimme erreichte ihn nicht mehr. Er schwang sich auf sein Pferd und hinterließ nichts als Staubwolken, die ihn und meine Frage verschlangen.
„Ob er wohl Ottos Herr war? Das werde ich wohl nie herausfinden. Es hätte ja immerhin sein können, dass Ottos Traum in Erfüllung geht. Herzenswünsche sind mächtige Wünsche“, dachte ich bei mir.  
Diese Gedanken ließen mich zumindest nicht in Frieden meine Mahlzeit zu mir nehmen. Ich war mehr bei Otto denn bei meinem Frühstück, wohingegen Wolf die abgenagten Lammknochen, Reste der vergangenen Nacht, sichtlich genoss.
„Ottos Dorf ist nur eine halbe Tagesreise entfernt. Ich könnte zurückkehren. Ach was, Unsinn, weshalb auch? Otto hat nicht verstanden, was ich ihm sagen wollte.
Bist du dir sicher?“ fragte mich meine innere Stimme.
Kannst du wirklich wissen, dass deine Beurteilung stimmt?
HACH! Diese innere Stimme. Natürlich kann ich das nicht wirklich wissen.
„Was willst du also, Stimme?“
Finde es heraus!

Ich entschied mich gegen den Rat meiner Stimme angesichts der sommerlichen Hitze, verließ die Schänke und zog weiter ohne Ziel, suchte Waldwege, die Wolf und mir Erleichterung verschafften. Selbst die Nächte kühlen nicht ab. Ich stehe auf, gehe ruhelos auf und ab. Wolf hebt kurz den Kopf, um sich mit einem leichten Grummeln wieder hinzulegen. Ich habe seine Träume gestört. Tage, Wochen, Jahre ziehen vorüber in meiner Erinnerung, vermischen sich, bilden neue Erinnerungen, jenseits des Gewesenen, jenseits der Ereignisse und doch greifbar nah.  
Otto. Welch eigenartige Geschichte habe ich erlebt mit diesem Mann. Der nichts verstand und mich ins Grübeln brachte. „Alles ist richtig“ tröstete ich mich, ohne jedoch meinen gewohnten Frieden zu finden. „Weshalb“, fragte ich mich. „Weil du ungebeten in ein Leben eingegriffen  hast“, kam die Antwort.
Das, meine lieben Zuhörer am Feuer, war geschehen, ehe ich endgültig den Wald und das Bächlein verließ und mich aufmachte, zurück ins Dorf zu Otto. Ihr fragt euch sicherlich, was mich zu diesem alten Säufer zurückzog. Zuerst beschloss ich, in dem Treffen mit dem Hageren keinen Sinn zu sehen, und zog weiter, wie Wolf und ich immer weiter ziehen wohin es uns eben zieht. In den folgenden beiden Nächten träumte ich von Otto. In der ersten Nacht erschien mir dieser erbärmliche Säufer: „Du spinnst, Felix—da warte ich lieber auf meinen Oberst!“ In der zweiten Nacht fühlte ich seine quälenden Gedanken, fühlte, wie er mit den gestorbenen Kameraden litt, fühlte, wie er nach dem Sinn des Lebens fragte. Und in der dritten Nacht starrte ich ins Feuer und hörte das muntere Bächlein und die Stimme meines Herzens, die mir nach ihren rätselhaften Worten die Antwort verweigerte. Da fasste ich den Entschluss: „So kann es nicht weitergehen. So kann ich nicht weiterziehen“,  und ich begab mich, wie gesagt,  auf den Rückweg zu Otto.
Als ich in dem Dorfe nach meinem langen Marsch eintraf, verschwand Wolf in einer Gasse. Auch er hatte wohl noch ein Wiedersehen im Sinn. Es war noch Morgen, der leichte Nebel hatte dicke Tautropfen auf die Blätter gezaubert. Ich erwartete, aus der Scheune das bekannte Schnarchen zu hören. Weit gefehlt! Ich traf Otto, der tief versunken den Stall ausmistete.
„Otto“, rief ich ihm zu.
„Du“, fragte er, „Du Felix, der mich mit seinem Kreis nicht zur Ruhe kommen lässt?“
„Otto, vergiss den Kreis. Du hattest wahrscheinlich Recht. Ich glaube, ich traf deinen Oberst.“
„Den Kreis vergessen? Spinnst du, Felix? Jetzt, wo ich langsam verstehe, was du meinst? Du meinst, es ist wie die Sonnenuhr, nicht wahr? Oder wie beim Tanze? Du drehst dich und drehst dich nur um dich selbst. Ist es DAS, Felix?“
„Otto, ich glaube, ich traf deinen Oberst!, Hörst du mich?“
Ich fasste ihn bei den Schultern und schüttelte ihn in meinem Bedürfnis, ihm die gute Nachricht zu vermitteln.
„Felix, ist es das? Das Drehen um sich selbst“, insistierte er jedoch, ohne zu hören, was ich ihm sagen wollte.
„Halte ein, Otto. Lass uns eine Brotzeit nehmen, ich bin hungrig vom Wandern. Und lass uns reden.“
Wir gingen in das Wirtshaus.
„Naaaa, Otto, warst seit vielen Tagen nicht mehr hier! Durst auf einen Humpen?“
„Nein Wirt“, unterbrach ich den Angriff. „Lust auf eine Brotzeit für Otto und mich.“
„Ach, ihr seid es“, kam ein verwunderte Ausruf.
„Bier oder lieber von den gepressten Äpfeln?“
„Zuerst den Apfelmost, zur Brotzeit das Bier!“
Der Wirt strich mit den Händen an seinen Hosennähten entlang und verschwand kopfschüttelnd.
Otto beugte sich zu mir und erzählte begierig.
„Felix, du weißt nicht, was du mir angetan hast! Als ich am Mittag danach aufwachte, stand die Sonne schon weit am Himmel. Etwas war geschehen, das wusste ich—etwas ist am letzten Abend passiert. Nur, was war es ? Ich vergesse, wenn ich saufe, Felix. Deshalb fragte ich mich, was es war, das mich an dem Morgen nicht mehr losließ. Ich trat aus dem Stall hinaus auf den Hof. Ich fühlte Schwindel und war geblendet. Alles war wie immer. Die Tiere glotzten mich an, wie jeden Tag. Die Tiere, ja, ihr Blick ist immer freundlicher als der der Menschen. So empfand ich es zumindest. Und trotzdem—irgend etwas an jenem  Morgen, der eigentlich schon Mittag war, irgend etwas war anders. Mein Kopf war gleich schwer, wie immer. Der fahle Geschmack im Mund lähmte meine Zunge, auch wie immer, meine Haut sehnte sich ein kleines bisschen nach Frische und nach Wasser—so, wie jeden Morgen. Ich ging über den Hof zum Brunnen und versuchte Ordnung in den Wirrwarr meiner Gedanken zu bringen, indem ich meinen Kopf in einen Eimer kalten Wassers tauchte. Ich hatte Durst und wollte einen Humpen. Ich machte mich auf in die Dorfschenke, als ich mich an deinen Namen erinnerte, Felix. Dein Name und eine schwache Erinnerung drang in mein noch vernebeltes Hirn und pochte mit jedem Herzschlag. Es war mehr als ein Name, es war die Erinnerung an einen Kreis. „Jetzt drehe ich mich wohl selbst im Kreis“, dachte ich und wischte mir kalten Schweiß von der Stirn. Du hast keine Ahnung, wie ich mich gefühlt habe! Wie gefangen in einem Rundkäfig gingen mir immer wieder deine Worte durch den Kopf:
„Gibt es einen Grund, weshalb du dich nicht auf den Weg zu ihm aufgemacht hast?“  Und ich fragte mich: „Weshalb habe ich mich nicht einfach auf den Weg gemacht? Weshalb habe ich Angst davor? Und dann: Ich habe doch keine Angst! Ich war im Krieg! Da habe ich Schlimmeres erlebt, als auf Wanderschaft zu gehen. Lachhaft! Dennoch: Deine Frage war ständig in meinem Kopf. Ich spürte einen Schmerz genau in der Mitte zwischen Herz und Brust. Ich hielt inne auf dem Weg zur Schänke. Ja, es gab einen Grund, ganz tief in mir spürte ich den wahren Grund.“
Der Wirt brachte den Apfelmost und blieb am Tisch stehen. Er hatte ein paar Gesprächsfetzen gehört und wollte mehr wissen. Otto beachtete ihn nicht.
„Ganz tief in mir spürte ich einen Zweifel, Felix“, pochte er auf die Stelle zwischen Herz und Brust.
„Wird mein Herr mich wirklich wieder aufnehmen, wenn ich so bin wie ich jetzt bin, wenn ich so in sein Haus trete? Erkennt er mich noch, diesen heruntergekommenen Knecht? Es traf mich wie ein Faustschlag, Felix. Ich schämte mich zutiefst über die Tränen, die mir die Wange hinunter liefen. Dann ging ich in die Schänke und betrank mich! Ich wollte diese Gedanken nicht mehr denken. Sie taten mir weh bis tief in die Seele.“
„Das war der Tag, an dem du bis zum Abend gesoffen hast, Otto“, warf der Wirt ein. „Und danach bist du nicht mehr gekommen. Wir dachten schon, du hättest dich zu Tode gesoffen.“
„Bringt uns die Brotzeit, Wirt“, sagte ich sanft. „Und bitte noch mehr von dem Apfelmost—der ist besser am Morgen!“
Ich wandte mich an Otto voller Mitgefühl für seine Schmerzen und auch voller Erstaunen über das Leben. Über das Leben und über mich. Wie ich selbst so einfach angenommen hatte, meine Worte seien im Nebel seines Rausches nicht durchgedrungen. Wie ich selbst wieder in der Falle des Bewertens war, ich, der ich doch weiß, dass alles richtig ist, wie es ist, dass alles seinen Sinn hat.
Du bist eben ein Mensch, Felix. Du lernst! Verurteile dich nicht dafür, bewerte nicht die Erfahrung! Jede Erfahrung bringt dich näher zu dir selbst. Jede Erfahrung lässt dich länger in deiner Mitte verweilen.“
Da war sie wieder, meine Stimme, die ich seit Tagen nicht mehr gehört hatte. Tiefe Dankbarkeit erfüllte mich, ich verstand. Weniger als einen Wimpernschlag lang dauerte diese Botschaft.
„Was geschah dann“, wandte ich mich nach diesem magischen Augenblick wieder an Otto.
„Es war dieser Zweifel, der mich daran hinderte, mich auf Wanderschaft zu begeben, Felix. Wie ein Bremsklotz unter einem Wagenrad hinderte mich dieser Zweifel gerade dann, wenn ich Mut gefasst hatte, aus diesem Dorf hier wegzuziehen, dieses Leben hier hinter mir zu lassen. Und ich wählte ob dieses Zweifels, NICHT zu gehen. Das Warten bereitete mir weniger Schmerzen als meine Befürchtung,  Verachtung in den Augen meines Herrn lesen zu müssen. Ich wartete also, bis mich der Oberst finden würde. Aber eines weiß ich, Felix. Ich weiß es ganz genau! Und auch das fühle ich hier drin!“
Wieder pochte er sich auf die Brust.
„Ich weiß es, dass wir uns wieder begegnen! Mein Herr ist nicht tot! Und noch etwas, Felix. Es gab noch einen Satz, vielleicht war es auch dieser, der mich bis ins Mark getroffen hatte. „Was hast du gemacht, während du gewartet hast?“ Du hast eine Gabe, Felix, die Menschen mitten ins Herz zu treffen! Diese Frage konnte ich mir leicht beantworten.
„Ställe ausmisten“, war meine erste Antwort. „Saufen“, war die zweite, die mir weniger behagte. „Was hätte ich denn tun sollen“, fragte ich mich dann. Saufen und warten. Saufen und Warten. Im Klang dieser Worte ließ ich meinen Disput mit der Mistgabel am Heu aus. Da beschloss ich, mit dem Saufen aufzuhören. Erst mit dem Saufen, dann mit dem Warten. Jedesmal, wenn ich diesen unzähmbaren Wunsch hatte, mich in der Schänke den Humpen hinzugeben, sah ich die Verachtung in den Augen meines Herrn. Dann tauchte ich meinen Kopf in einen Eimer mit eiskaltem Wasser und schüttelte mich wie ein Hund. Ich soff Wasser, mehr als das Vieh, um mein Verlangen nach den Humpen zu bekämpfen. Ich schlief  Tag und Nacht, tauchte den Kopf in Wasser, soff Wasser. Und nun, Felix, bist du wieder hier und sagst, ich solle den Kreis vergessen! Und wunderst dich dann, dass ich übersprudele wie die Quelle des Gebirgsbaches!“
„Otto, verzeih mir. Ich habe mich geirrt!“ Ich streckte meine Arme aus und legte meine Hände auf seine Hände, zarte Hände eines Schreibers und Erzählers auf knorrigen Händen eines Knechtes und Veteranen, auf die Hände eines Menschen, der den Weg zur Mitte angetreten hat, den Weg der Entscheidung und der Verantwortung für sich selbst. Ich war tief  beschämt und gleichzeitig glücklich. Ich ließ mein offenes Herz in diese Hände hinein strömen, schaute Otto in die funkelnden Augen und sagte nochmals:
„Verzeih, Otto. Ich dachte, du hättest meine Worte nicht verstanden. Ich habe mich geirrt.“
In diesem Moment setzte der Wirt die Brotzeit zwischen unsere ausgestreckten Arme und schaute ungläubig erst auf Otto, dann auf mich. Der Zauber des Augenblicks war gebrochen. Ich zog meine Hände zurück und griff verlegen nach einer dicken Scheibe Brot. Otto schaute mich an.
„Ist schon gut, Felix. Ich hätte es an deiner Stelle sicher auch gedacht.“
Noch ganz in Gedanken schwieg ich wohl eine Weile zu lange für meine Zuhörer am Feuer.
„War nun der Hagere sein Herr, Geschichtenerzähler?“
„Ich habe damals Otto von meiner Begegnung erzählt“, gab ich Anwort.
„Ich beschrieb das Aussehen und Otto lachte.
„Nein Felix. So sah er nicht aus. Es kann zwar sein, dass er inzwischen noch hagerer geworden ist, aber größer wurde er bestimmt nicht. Mein Herr war kleiner als ich, manchmal haben wir über seine Zartheit gelacht, die doch von so unendlicher Stärke war. Aber das macht nichts, Felix“, meinte er. „Morgen mache ich mich auf den Weg zum Gut!“

„Und du weißt nicht, ob er seinen Herren wieder gefunden hat?“
„Nein, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass er nicht länger herumirrt.“