er Nachbar

Häufig findet sich ein Dorfbewohner nach einer Geschichte am Feuer noch zu einer Frage ein. Diesmal war es der Schmied des Dorfes.

„Geschichtenerzähler, du hast schon so viele Dörfer bereist und kennst dich aus in unseren Sitten. Kannst du mir sagen, weshalb mein Nachbar mit mir in Unfrieden lebt?“
„Zum Unfrieden gehören zwei. Magst du mir deine Geschichte erzählen?“
„Was? Wie zwei? Was meinst du damit? Etwa, dass ich daran Schuld habe? Du kannst mich doch nicht so einfach an den Pranger stellen! Da hätt ich doch lieber nichts gesagt“, brauste mein Fragesteller auf.
„Schmied, erhitze dich nicht. Lass mich deine Geschichte hören, damit ich dir meine Sicht erklären kann.“
Er holte tief Luft, hielt sie an und lies sie mit einem hörbaren Seufzer heraus.
„Nichts für ungut, Geschichtenerzähler, aber ich sehe rot, wenn ich nur daran denke. Nun, es begann, als ich ins Dorf kam. Du musst wissen, dass ich erst zwei Winter hier bin—es  fängt an mir leid zu tun, jemals einen Fuß in dieses Dorf gesetzt zu haben! WAS habe ich mir nur dabei gedacht, diesen Menschen „Freund“ zu nennen?“
Er begann das Lamentieren.
„Schmied, bitte lass mich verstehen, was dich so erzürnt.“
„Es begann eigentlich sehr gut. Das Dorf hatte keinen Schmied und ich suchte einen Platz, an dem ich mit meiner Familie in Frieden leben konnte. Ich verabscheue Streit und Zank, musst du wissen. Deshalb hatten wir uns auch auf die Wanderschaft begeben als es im letzten Dorf untragbar geworden war. Mein Weib, meine Kinder und ich packten unser wenig Hab und Gut und suchten für uns eine neue Bleibe.“
„Was war denn geschehen, Schmied“, fragte ich ihn als er schweigend in der Vergangenheit verharrte. „Was war für dich unerträglich?“
„Der Zank, Geschichtenerzähler, der Zank!“
„Du hattest also einen Disput?“
„Ja und nein; ich selbst hatte keinen Disput. Im Gegenteil. Ich fühlte mich sehr wohl unter den Männern des Dorfes. Wir lachten viel miteinander. Es war mein Weib, die mit den anderen Weibern des Dorfes im Zank lebte. Jede Nacht hörte ich mir an, wie diese oder jene ihr Unrecht tat. Sie stellte mich vor die Wahl, das Dorf zu verlassen, oder sie zu verlieren. Sie wollte mich und die Kinder verlassen und ins Kloster gehen, unserem Herren zu dienen.
Was, sag mir, was jedoch macht ein Mann alleine mit sieben unwüchsigen Kindern? Ich verstehe viel von Pferden, aber wenig von Kindern.“
„Gib den Kindern die selbe Wertschätzung und das selbe Verständnis, Schmied, das du deinen Pferden gibst. Du hast alles Verständnis, das du brauchst.“
„Nein, nein, sieben Kinder. Und die Frau im Kloster! Ich gab ihrem Drängen nach und nun sind wir hier. Doch diesmal ist es mein Nachbar, der MIR das Leben zur Hölle macht. Ständig findet er einen Grund, an mir herumzumäkeln. Ich soll nach Dämmerung kein Eisen schmieden. Ich soll vor Dämmerung kein Feuer entzünden. Was weiß er schon vom Leben eines Schmieds?“
„Hast du ihm jemals das Leben eines Schmiedes erklärt?“
„Wozu auch? Das versteht nur ein Schmied. Oder ein Bauer. Aber kein Schreiber!“
„Ich bin auch ein Schreiber, Schmied. Dann könnte auch ich dir keine Antwort geben.“
„Das mag sein—aber du hörst mir zumindest zu.“
„Du bist also in dieses Dorf gekommen und hast dir hier eine neue Heimat geschaffen. Und doch hast du immer noch keinen Frieden gefunden. Wie kommt das?“
„Weil ich einen Nachbarn habe, der Schreiber ist. Deshalb. Weil er mich nicht meine Arbeit tun lässt!“
„Oh hoooo! Wie macht er das, dass er dich, du kräftiger Schmied, von deiner Arbeit abhält?“
„Weil er ständig darüber klagt, dass ihn die Geräusche, die aus meiner Schmiede klingen—oder der Krach, wie er es nennt,  nun, dass ihn das von seiner Arbeit abhält, dass es ihn stört.“
„Ihr haltet euch also gegenseitig von der Arbeit ab?“
„So sieht es aus. Ja, da hast du Recht“, meinte er verwundert.
„Ihr wollt also beide eurer Arbeit nachgehen, doch jeder von euch meint, der andere halte ihn davon ab?“
„Ja, so sieht es aus.“
„Sag mir, weshalb bist du eigentlich neben einem Schreiber, also mitten im Dorfzentrum angesiedelt?“
„Das ist der beste Platz im ganzen Dorf! Der letzte Schmied war auch hier. Ich habe von ihm die Schmiede übernommen als er in ein anderes Dorf zog. Es war damals ein wirklicher Glücksfall, dass ich eine Schmiede suchte und er eine verlassen wollte. Wir waren uns schnell handelseinig. Wenn ich jetzt jedoch zurückblicke, frage ich mich, ob es wegen des Schreibers war.“
Er sah nachdenklich aus bei diesem Satz, als wäre ihm just in diesem Moment dieser Gedanke gekommen.
„Ja, Schmied. Es könnte sein. Das kannst du jedoch nicht wissen. Sag mir, würdest du wegen des Schreibers weiterziehen, oder würdest du eher versuchen, den Zwist zu lösen, auf die eine oder andere Art?“
„Ich würde lieber den Zwist lösen, Geschichtenerzähler. Aber was kann ich tun? Mir sind die Hände gebunden. Ich möchte nicht noch einmal ein Dorf verlassen, des lieben Friedens wegen.“
„Du wolltest von mir wissen, weshalb dein Nachbar mit dir in Unfrieden lebt. Meine Antwort, meine Sicht heißt: „Weil du dich auf einen Kampf einlässt.“
Denke nach, Schmied, was du möchtest. Du hast die Wahl aus vielen Möglichkeiten.
Du kannst zum Beispiel aus der Schmiede einen Krämerladen für deine Frau machen und die Schmiede am Dorfrand neu aufbauen.  Deine Frau handelt doch sowieso mit den vielen Dingen, die unter ihren und den geschickten Händen deiner Töchter entstehen. So hättet ihr mehr Ruhe im Haus. Wenn das Dorf jedoch wächst, bekommst du neue Nachbarn. Wer sagt dir, dass der neue Nachbar nicht ist wie der Schreiber?
Du kannst es auch belassen, wie es jetzt ist und trotzdem den Frieden leben, der dir so wichtig ist. Du kannst die Aussprache suchen für ein Miteinander. Du kannst aufhören, ihn zu bekämpfen, weil du dich im Recht glaubst. Wenn du aufhörst, ihn zu bekämpfen, wird der Schreiber seinen Kampf mit dir beenden. Was soll er bekämpfen, wenn du wie das Wasser bist, das um ein Hindernis herum fließt? Wenn du weißt, was du willst, Schmied, dann ist es möglich. Friede ist sehr wichtig in deinem Leben. Vergib ihm seine Unwissenheit über deine Arbeit, vergib dir deine Unwissenheit über seine Arbeit. Sieh hinter den Schein, so, wie in meiner Geschichte heute Abend am Feuer. Sieh hinter den Schein und vergib ihm. Schicke dem Schreiber  ein „Friede sei mit dir, Schreiber“, schicke es ihm aus ganzem Herzen. Du hast die Wahl, Frieden zwischen dir und dem Nachbarn zu schaffen, oder die Wahl, deine Schmiede woanders aufzubauen.
Als Wanderer zwischen den Dörfern kenne ich die Kraft der Wahl. Es ist jedoch deine Wahl, Schmied, du bist frei, die Entscheidung für dich zu treffen. Es gibt sicherlich noch viele Möglichkeiten, die mir nicht eingefallen sind. Aber du wirst sie wissen, wenn du weißt, was du wirklich willst. Es liegt in deiner Macht.
Friede sei mit dir, Schmied!“

Seine hellblauen Augen unter den buschigen Augenbrauen sagten mir, dass er über meine Worte nachdenken würde. Ein grobschlächtiger, kräftiger Mann mit einer Seele, die den Frieden sucht.
„Friede sei mit dir, Geschichtenerzähler!“