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er Baumwichtel
„Vor langer Zeit erzählte ich euch die Geschichte des Waldes, der weinte. Ihr erinnert euch vielleicht noch.
Viele Naturgeister verloren damals ihr Heim. Viele fanden ein neues
Zuhause. Einer jedoch, ein wundersamer Rotschopf, irrte lange umher. Ich möchte euch heute die Geschichte eines baumlosen
Baumwichtels erzählen. Ich erzähle euch die Geschichte so, als würde sie vom Wichtel selbst
erzählt—denn sonst verwirre ich euch nur.
Chrulmi, so heißt der Wichtel seiner Bestimmung nach, verlor in jener Nacht seinen Baum.
Der Baum war damals schon sehr alt und sehr weise. Als der Sturm seinen Höhepunkt erreicht hatte, sprach er ernsthafte
Worte zu Chrulmi.
„Chrulmi, meine Zeit ist gekommen. Ich belebe diese Welt schon lange Zeit. Ich kehre zurück in die
Schöpferfunken, kehre zurück ins Eins. Du, mein kleiner Baumwichtel, du hast jedoch eine andere
Bestimmung.“
Voll des Entsetzens klammerte sich Chrulmi an die Borke seines Baumes.
„Du kannst nicht einfach gehen, großer Weiser! Du kannst mich doch nicht einfach in diesem Inferno
zurücklassen! Nein, ich will das nicht! Was mache ich denn ohne dich? Ohne deinen Schutz der Blätter, die mich
Rotschopf vor der Sonne schützen? Ohne die liebevolle Umarmung deiner Wurzeln, in der ich mich so wohl fühle, so
geborgen? Ohne die vielen Borkenkäfer, die mir von ihren Abenteuern erzählen, wenn sie dich erkunden? Nein nein nein.
Das kann nicht sein. Wenn ich nicht will, kannst du nicht gehen!“
„Wenn ich nicht geh, kannst du nicht finden.“
„Was soll das denn nun heißen?! Manchmal redest du wirklich in Rätseln.“
„Chrulmi, bei mir hast du deine Kindheit verbracht. Durch mich lerntest du die Weisheit von uns Bäumen. Durch mich
lerntest du den Schlaf des Vergessens, den Scheintod im Winter. Die Neugeburt und das Wiedererwachen des Frühlings, dessen
hellgrüne Herzblätter den Beginn verkünden. Lerntest des Sommers Fülle und die Schönheit des Herbstes.
Lerntest den Kreislauf der Gezeiten. Du, Chrulmi, hast die Aufgabe, dieses Wissen unter die Menschen zu tragen.“
„Die Menschen? Sagtest du MENSCHEN?“
„Ja, die Menschen. Finde die Menschen, die dir Baumwichtel ein neues Zuhause geben. Das ist deine Bestimmung.“
„Nein nein nein. Das kann nicht sein. Ein Baumwichtel ich bin, nicht ein Menschenwichtel. Menschenwichtel sind
schwarzweiß. Das weiß doch jedes Kichtel! (Ein Kichtel ist ein neugeborener Wichtel.) Ich bin bunt, trage die
Farben der Sonne, des Frühlings, des Herbstes. Ich bin kein Menschenwichtel!“
„Chrulmi, meine Zeit ist gekommen. Ich kann dem Sturm nicht mehr lange Stand halten. Siehst du den Felsspalt dort hinten?
Begebe dich dort hinein. Dort findest du den Menschen, der dich deiner Bestimmung zuführt. Schnell, beeile dich. Ich kann
dem Sturm nicht mehr lange die Krone bieten. Geh jetzt. Vertrau mir, wie du mir immer vertraut hast. Geh in die
Höhle.“
„Nein nein nein, das kann nicht sein“, wollte ich gerade wieder sagen, als der Sturm meinen Baum in seine
Hände nahm und flüsterte, dass nun die Zeit der Heimkehr gekommen sei. Mein Baum seufzte, neigte sich mir zu.
„Geh“, flüsterte er noch leise in seinem Bestreben, mich in Sicherheit zu wissen. Er löste eine Wurzel
aus dem Erdreich und gab mir einen Schubs in Richtung der Höhle. Dann neigte er sich, langsam erst, und dann, mit einem
großen Bersten, legte er sich der Länge nach auf die Erde. „Chrulmi.....die Höhle...GEH!“
Zitternd lehnte ich mich an den Felsen. Das Entsetzen dessen, was geschehen war und die Angst vor dem Kommenden
schüttelten mich. Es war nicht nur ein Mensch in dieser Höhle sondern die Ausgeburt des Schrecklichen, das, was die
Menschen Hund nennen. (Ich fürchte die Hunde. Gar manches mal bin ich durch und durch durchnäßt worden von
solchen Wesen, wenn ich mich nicht rechtzeitig aus der Reichweite des großen Wasserfalls entfernt habe.) Doch zu meinem
Erstaunen nahmen mich weder der Mensch noch der Hund wahr. Der Mensch saß da mit geschlossenen Augen und zauberte
ein wundersames Licht. Der Hund war mit ihm im Lichtkreis und verstärkte diesen Zauber. Ich sah, wie sich eine Lichtkuppel
bildete, die den ganzen Wald in die Schöpferfunken der Liebe einhüllte. Mein Zittern ließ nach, hörte gar
auf. „Mein alter Weiser“, dachte ich damals, „ich danke dir, dass du mir diesen Weg gewiesen hast. Bis
sie wieder aufwachen, bin ich hier sicher.“
Ich drückte mich in eine Felsspalte, in der ich nicht gesehen werden konnte und beobachtete das Geschehen. Hund und Mensch
saßen lange, bis der erste Vogel wieder sang. Der Mensch öffnete die Augen, der Hund gähnte so sehr, dass ich,
Chrulmi, bis in den Schlund sehen konnte. Die weißen, entblößten Zähne schickten mich erneut in das
Zittern meines Körpers.
„Wolf“ sagte der Mensch, „komm, lass uns gehen“.
Sie verließen die Höhle und begaben sich in Richtung Menschendorf. Ich folgte ihnen, gemäß den Worten
meines Weisen. Ich musste sehr vorsichtig sein, denn dieser Hund war anders als andere Hunde. Ich hatte das Gefühl, dass
er um mich wusste. Aber wie gesagt, es war nur ein Gefühl. Baumwichtel wissen wenig über Menschen oder Hunde. Sie
wissen jedoch sehr viel über Bäume. Bei meiner Beschattung des Menschen begegnete ich vielen heimatlosen
Baumwichteln, so wie ich auch einer war. Sie beklagten den Verlust ihrer Weisen. Sie wussten nicht, wohin, erzählten mir,
dass sie sich auf wundersame Weise beschützt gefühlt hätten, als wären sie unter dem Schutz des
großen Baumes gestanden. Ich erzählte ihnen vom Wunsch meines Weisen, den Menschen von nun an beizustehen,
erzählte ihnen von der Höhle.
„Den Menschen“, fragten sie mich entsetzt. „Aber Menschenwichtel sind doch schwarzweiß! Menschen wissen
doch nicht um das Sowohl-als-auch! Du bist doch Baumwichtel! Bist bunt. Wie kannst du den Menschen beistehen“, war
jedesmal die gleiche Debatte.
Bis ich ihnen einmal sagte:
„Ich lehre sie die Farben. Versteht ihr? Ich lehre sie Farben sehen, das Sowohl-als-auch. Sie sollen mehr sehen, als das
Schwarzweiß des Entweder-Oder.“
„Und du meinst, Menschen können Farben sehen“, kam die erstaunte Frage.
„Mein Meister meinte es. Ich vertraue seiner Weisheit“, war meine Antwort.
Während der Mensch und sein Wasserfall Hund im Dorfe der Menschen ankamen, verbreiteten sich meine Worte in
Sturmeseile durch die ganze Baumwichtel-Welt.
„Wir können die Menschen das Sowohl-als-auch lehren!“.
„Wer sagt das“, fragte der große Wichtel.
„Die große alte weise Ulme“, war meine Antwort.
„So sei es“, entgegnete er.
„So ist es nun, dass ich und viele andere heimatlose Baumwichtel ihren Weg zu euch Menschen finden. Weshalb sonst
würdet ihr auf einmal bunte Träume haben, gar erkennen, dass die Welt bunt ist?“
„Hihihi, Alter, das ist aber ein schönes Märchen“, kicherte eine junge Frau mit lockigen langen
Haaren. „Waren Chrulmi und die anderen Wichtel erfolgreich“, wollte sie wissen.
„Ja, Christel“, nahm mir ein anderer Dörfler die Antwort ab, „Schau dich doch um! Zwar gibt es immer
noch viele Menschen, die nur das schwarz-weiß sehen. Ich kenne jedoch auch Menschen, die Farben sehen können. Zum
Beispiel dich“, grinste sie der Dörfler an. Im allgemeinen Gelächter konnten wir alle ein fröhliches
„hihihi“ vernehmen.
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