as Buch der Schuld

Ich bin müde doch mein unruhiger Geist kommt nicht zur Ruhe. Die Vollmondnacht treibt mich zurück ans verglühende Feuer.
„Hee Alter! Komm setz dich zu uns. Kannst du auch nicht schlafen? Erzähl uns noch eine Geschichte, Alter! Vielleicht kommen wir dann alle zur Ruhe.“
Nun denn, ob ich nun vor mich hin sinniere oder euch eine Geschichte erzähle, wo ist der Unterschied?
„Legt noch Holz auf, dann erzähle ich euch eine Geschichte, die mir selbst erzählt wurde. Ein junger Mann erzählte sie mir, mit dem ich einst an einem Feuer saß, das er nicht ausgehen lassen wollte.

„Geschichtenerzähler“, hob er damals an und legte Holz nach, „ich möchte dir eine Überlieferung erzählen.“
Er schaute versunken ins Feuer und begann.
„Einst, vor vielen Generationen, bekamen unsere Vorväter das Geschenk des Feuers. Ein Blitz schlug in einen Baum und entfachte ein Feuer, das fortan der Siedlung dienen sollte. Der Baum brannte nieder, doch immer wieder wurden vom Hüter trockene Äste darauf gelegt, damit dieses heilige Feuer, das Geschenk unserer Götter, niemals verlöschen möge.
Zu jener Zeit begab es sich, dass der Sohn des Rudelführers eine Frau liebte, die dem Vater nicht genehm war. Den Liebenden schien der einzige Ausweg, die Siedlung zu verlassen und hinaus zu ziehen in die Weite des Landes, um dort selbst eine Siedlung zu gründen. Als der Mond voll am Himmel stand um ihren Weg zu segnen, brach er einen Ast, raubte vom heiligen Feuer und zog mit ihr in die Ungewissheit.“
Der junge Mann legte ein Holzscheit nach und fuhr fort.
„Sie waren schon weit gewandert, als er eine Höhle entdeckte, genügend entfernt von der Siedlung des Vaters, groß genug um ihm, seiner Frau und dem werdenden Kind Schutz zu bieten vor dem Unbill der Natur. Er hob eine Mulde aus, in der er das Feuer am Leben erhielt, dessen göttlicher Atem sein Heim wärmte. Er wurde der Hüter des Feuers. Die Götter waren ihnen gnädig. Sie befanden sich in einer Landschaft, die ausreichend Nahrung und Holz für ihn und seine kleine Familie bot. Seine Gefährtin hatte ihm einen Sohn geboren.

Im fünften Winter jedoch geschah das Unglück. Die Stürme begannen früh in diesem Jahr. Heftiger Regen und kühle Nächte plagten das Land. Vereinzelt konnte er schon gar die weißen Flocken bemerken, die den Gott der weißen Zeit ankündigten. Hastig sammelten Mutter und Sohn Wurzeln und Beeren, Holz und Blätter, während er die Tiere erlegte, die Ihnen Felle und Sehnen lieferten. Er suchte auch nach passenden Steinen, die in den kommenden langen Monden unter seinen geschickten Händen zu Speerspitzen geformt werden sollten. Die Höhle füllte sich und sie sahen zuversichtlich der weißen Zeit entgegen.

Eines jedoch war anders, in jenem Winter. Er hatte das Holzsammeln der Gefährtin und dem Sohn überlassen, da der Beginn der weißen Zeit sie drängte. Du musst wissen, Geschichtenerzähler, dass nur der Hüter des Feuers wusste, welches Holz zu nehmen ist. Welches Holz das Feuer auffachen lässt, welches Holz das Feuer lange am Leben erhält, und welches Holz den Gott des Feuers erzürnt.“

Der junge Mann unterbrach die Geschichte.
„Schau her, Geschichtenerzähler, dieses Stück Holz hier“,  sagte er und griff nach einem modrig aussehenden Holzstück. „Schau was passiert, wenn ich das jetzt auf unser Feuer lege!“
Das Holzscheit war so feucht, dass das Feuer anfing zu qualmen.
„Hier bedeutet es nichts, Geschichtenerzähler, aber damals—damals  begann mit zu jungem Holz das Unglück. Weil die Zeit drängte, hatte seine Gefährtin zusätzlich frische saftige Äste gebrochen. Eines Nachts, als die weiße Zeit ihren Höhepunkt hatte, legte er genügend Holz auf, so dass bis zum nächsten Morgen das Feuer noch ausreichend Glut gehabt hätte, um es wieder zu entfachen. So wusste er es. So war es immer. Als er damals erwachte, war das Feuer erloschen.“

Er schwieg lange.
„Was geschah dann“, unterbrach ich seine Gedanken.
„Nun, sie konnten nicht bleiben ohne Feuer, machten sich also auf den Weg zurück zur Siedlung des Vaters. Auf dem Weg dorthin sind seine Frau und sein Sohn umgekommen. Er jedoch erreichte noch die Siedlung. Damals war es ein Gesetz, dass jeder aufgenommen wird, der Hilfe braucht. Als Geächteter lebte er am Rande der Siedlung.“
„Weshalb war er geächtet?“
„Er hatte vom heiligen Feuer entwendet, Geschichtenerzähler. Deshalb.“
„Was geschah?“
„Er konnte sich nie vergeben, dass er das Feuer verlöschen lies. Verzieh sich nie, dass deshalb die Gefährtin und sein Sohn ihr Leben verloren. Gab sich die Schuld. Eines Nachts, als der Mond den Weg segnete, zog er hinaus in einen Kampf gegen ein Untier und ließ sein Leben.“

Er schwieg, griff nach Holz und schürte das Feuer.
„Die Überlieferung ist damit nicht zu Ende, Geschichtenerzähler. Er nahm dieses Gefühl der Schuld gegenüber Frau und Kind mit sich, übergab es vielen Leben. Und erneuerte dieses Bündnis mit der Schuld.“

" Ich verstehe dich nicht. Was meinst du mit Erneuern des Bündnisses mit der Schuld?“

„Die Überlieferung sagt, Geschichtenerzähler, daß du das Gefühl von Schuld mit dir nimmst, es weitergibst von Einem zum Anderen. Als würdest du am Ende deines Lebens ein Buch deines Lebens einem anderen Leben übergeben. Dieses Buch kann dicker und dicker werden. Du kannst es jedoch lesen, anschauen und zurücklassen. Ich erzähle dir dazu noch zwei weitere Geschichten“, erklärte er.

„Ein Mann, der Wissenschaft verschrieben, ist der Erforschung von Zahlen und ihrer Verbindung zur Schöpfung auf der Spur. Er hat ein Weib, zwei Kinder. Seine Frau wird krank und er wacht an ihrem Krankenbett, tupft liebevoll die Schweißperlen von ihrer Stirn, wacht bei ihr und denkt über seine Arbeit nach. Dabei kommt ihm ein zündender Gedanke. Er betrachtet seine Frau, die in diesem Augenblick tief schläft, steht auf, geht an seine Studien, und schreibt einen Gedanken nieder, dann den nächsten und vergisst dabei die Zeit. Als er zurückkommt, ist sein Weib entschlafen. Er verzeiht sich nicht, in diesem letzten Augenblick seines Weibes nicht an ihrer Seite gewesen zu sein.

Er übergibt seine Arbeit dem Feuer und zieht sich mit seinen Kindern in die Vergessenheit zurück. Dem Buch „Schuld“ wurde ein neues Kapitel hinzugefügt.

Er übergibt es weiter, an den Nächsten, den Nächsten, den Nächsten, solange, bis die folgende Geschichte geschrieben wurde.

Ein Mann, der Wissenschaft verschrieben, liebt eine Frau. Er verbringt Jahre mit ihr, in denen er ihr Halt bei einer unerklärlichen Traurigkeit gibt. Für seine Studien muß er eine Reise in fremde Länder, in die Ungewißheit unternehmen und bittet sie, mit ihm zu kommen. Diesmal geht sie nicht mit. Das Buch wird umgeschrieben. Als er nach vielen Jahren den Weg in die Heimat findet, trifft er sie erneut. Für kurze Zeit denken sie, den Weg gemeinsam weiterzugehen. Doch eine Geschichte im Buch der Schuld wurde umgeschrieben, von ihr. Mein Vorfahr erlangte die Erinnerung daran, woher die Traurigkeit stammt, aus der er sie erlösen wollte. Er erkennt, daß er selbst das Buch der Schuld begonnen hat. Er schließt das Buch der Schuld und beginnt das Buch der Erinnerung.“

Wir schwiegen beide und hingen unseren Gedanken und Gefühlen nach, damals, als er mir seine Überlieferungen erzählte. Ich brach das Schweigen mit einem Lächeln.

„Ich danke dir für deine Überlieferungen. Es gibt jedoch noch ein Buch, das ich dich bitte zu schließen. Es hat den Titel: „Holz auflegen“. Komm, Bruder, laß dich umarmen und uns schlafen gehen. Der Tag graut schon.

Als ich gegen Mittag erwachte, war er nicht mehr im Dorfe, war weitergezogen auf seiner Wanderschaft. „Schade“, dachte ich—jedoch auch: „Es ist alles richtig wie es ist. Weil es ist.“ Vielleicht begegnen wir uns wieder, vielleicht erzählt er mir dann die ganze Geschichte.“

Auch unser Tag graut schon, der volle Mond verblasst. Ich hoffe, ich habe euch eine Geschichte erzählt, nach der ihr jetzt schlafen könnt! Gute Nacht, meine Freunde am Feuer. Wolf schläft schon längst. Und träumt davon, wie es ist, das Eins zu sein.