iebe und Angst

Die Dorfbewohner waren in ihre Häuser zurückgekehrt. Ich bewachte das langsam verlöschende Feuer, als sie sich zu mir gesellte.

„Geschichtenerzähler, du hast so viele Geschichten über die Liebe. Kannst du mir sagen, weshalb ich vor dem fliehe, den ich liebe?“
Sie ging ruhelos auf und ab, ballte die Fäuste. Ihr ganzer Körper sprach von dem Kampf, der in ihr tobte. In ihren Augen standen Zornestränen, die das innere Feuer nicht löschen konnten.

„Setz dich zu mir, Dulcinea, die Glut gibt noch Wärme ab. Ein alter Mann wie ich kann mit dir nicht Schritt halten, so, wie du hin und her rennst!“

Sie setzte sich mir gegenüber auf den Boden, umschlang ihre Knie und wiegte sich hin und her, als würde eine Mutter ihr Kind trösten.
„Die Flucht! Ich bin jedesmal geflohen. Immer bin ich geflohen, Geschichtenerzähler. Jedesmal. Wenn ich keinen Ausweg mehr sehe, dann schnüre ich mein Bündel und gehe. Einmal fast in den Tod, so sehr wollte ich fliehen.“
„Was treibt dich diesmal, Dulcinea?“
„Der Schmerz. Mein Schmerz um einen Verlust, den ich vor Augen habe. Ich könnte es eher ertragen zu sterben, als ihn zu verlieren. Und so verlasse ich ihn, um nicht verlassen zu werden. Und es bricht mir mein Herz!“
Sie presste die Faust auf ihren Mund und biss sich fest. Lautlose heftige Stöße gingen durch ihren Körper. Ich zog sie zu mir heran, gab ihr meine Schulter als Halt.

„Ich ertrage es nicht, ihn nicht glücklich zu sehen. Ich ertrage es nicht, den zu verletzen, dem ich doch nur das Beste wünsche. Ich will ihn doch nur glücklich machen. Ich kann nicht mehr. Ich ertrage es auch nicht, noch einmal verlassen zu werden, noch einmal neu beginnen zu müssen. Lieber gehe ich in ein Kloster oder setze meinem Leben ein Ende.“
„Du bist verzweifelt, Dulcinea, weißt nicht mehr, wie du weiterleben kannst.“
„Nein! Es geht doch nicht um mich. Es geht um ihn! Du verstehst mich nicht!“
„Dann erzähle mir bitte die ganze Geschichte. Ich möchte verstehen, wo die Wurzel deiner tiefen Verzweiflung entspringt.“
„Dafür brauchst du aber viel Zeit—diese Wurzel reicht bis weit in meine Kindheit oder vielleicht noch tiefer.“
„Wir haben alle Zeit der Welt, Dulcinea. Ich lege uns noch etwas Holz auf.“
Ich löste mich sanft von ihr, reichte ihr mein Sacktuch für ihre Tränen. Während ich mit gewohnten Bewegungen Holz nachlegte und das Feuer schürte, begann ich zu sinnieren.

Es scheint die Zeit der Veränderung zu sein. Schlecht oder nie verheilte Wunden brechen wieder auf, das scheinbar längst Vergessene wird wieder bewusst. Für Dulcinea ist es die Angst vor dem Schmerz des Verlustes der Liebe. Häufig ist mir dieser Schmerz begegnet. Der Schmerz des Verlustes oder eines vermeintlichen Verlustes. Die Angst, nicht geliebt zu werden, nicht zu genügen. Aber wem nicht zu genügen? Wessen Maßstäbe sind es, „nichts wert zu sein“? Die eigene Angst, das eigene Gefühl, nicht den Vorstellungen zu entsprechen, die Andere von uns haben, lässt uns erzittern.
Zu Recht!
Als ich keine eigene Vorstellung von mir selbst hatte, saß ich da und bemühte mich herauszufinden, was der Andere denn an mir lieben könnte. Ich fing an, nach Beweisen zu suchen, dass der Andere mich wirklich liebt. Und wenn ich es dann glaubte, fing ich sofort an, mir Sorgen darüber zu machen, wie ich mir diese Liebe erhalten könnte. Ich fing an, mich so zu verändern, wie ich meinte zu müssen, damit der Andere mich weiter lieben könnte. Ich verlor mich selbst in meiner vermeintlichen Vorstellung, wie der Andere mich „haben“ wollte. Und da ich mich verloren hatte, fing ich an, mich wertlos zu fühlen. „Du hast dich verändert“, löste die Angst aus, nun auch das noch zu verlieren, was ich doch gerade für den Anderen erschaffen hatte! Und verwirrt schaute ich mich um nach dem, was ich bin.
Liebe und Angst, die unzertrennlichen Schwestern, auf denen all unsere Gedanken, Worte und Handlungen beruhen. Liebe und Angst, geschehen lassen oder festhalten. Gedanken der Angst erschaffen eine andere Wirklichkeit als Gedanken der Liebe.

„Geschichtenerzähler, hör auf noch mehr Holz nachzulegen, du schürst ja ein Höllenfeuer“, unterbrach sie meinen Gedankengang. Zurück zu Dulcinea, der jungen Frau, die von mir eine Antwort will, die ich ihr nicht geben kann. Trost kann ich ihr geben. Liebe kann ich ihr geben. Die Antwort weiß sie nur selbst: Die Antwort, wer sie selbst ist.
„Nun, Dulcinea, erzähle mir von dir. Komm, lehn dich an mich.“
„Ich liebe ihn so sehr, Geschichtenerzähler. Ohne ihn bin ich nur ein halber Mensch. Warum kann ich nicht einfach glücklich sein mit ihm?“
„Was ist es denn, was du an ihm so liebst? Du sagst, ohne ihn seist du nur ein halber Mensch. Was hat er, das du nicht hast?“
„Nichts. Und doch Alles. Ich liebe ihn, wie er ist. Sein Schnarchen in der Nacht. Seine zärtlichen Hände. Die Art, in der er geht, die Art, wie er mich anschaut, wie er mit mir spricht oder mit den Kindern. Wie er andächtig einige junge Pflänzchen in die Erde bettet. Seine Ernsthaftigkeit mit der er seinem Tagwerk nachgeht. Seine sanfte Natur. Unsere Gespräche am Abend während ich die Wäsche ausbessere. Er weiß so viel. So habe ich ihn kennen und lieben gelernt.“
„Und jetzt? Was hat sich verändert?“
„ER hat sich verändert, nicht WAS“, rief sie aus.
„Gut. Also, wie hat er sich verändert? Wie empfindest du die Veränderung in ihm?“
„Es ist die Nähe, die wir hatten. Das Eins-sein miteinander. Das hat sich verändert. Er ist immer noch so freundlich und so lieb wie früher, er sagt mir, dass er mich liebt. Aber heute fühle ich, dass wir zwei sind. Ich fühle mich getrennt von ihm. Dabei mache ich doch alles, damit wir wieder eins werden!“
Wir hielten uns bei den Händen, schauten uns in die Augen. In ihren Augen schwammen die Gefühle wie Fische im weiten Meer. Wie Fische, die richtungslos ans Ufer treiben.
„Wann begann es oder wie begann es?“
„Ich glaube, er kann meine Nähe nicht mehr ertragen!“
Nach diesem Satz brach es aus ihr heraus.
„Er fragte mich: „Wo bin ich, Dulcinea, wo oder was bin ich?“ Was heißt das denn, Geschichtenerzähler, „Wo bin ich“. Was meint er damit? Wo bin ICH denn? Bin ich denn nichts? Ich bin doch eine Frau und nicht nur ein netter Mensch! Ich bin doch auch ein Teil seines Lebens, oder? Ich bin doch auch jemand! Ich habe mich für ihn geändert.
Wo bleibe ich denn, wenn er sich fragt „Wo bin ich“.
Ich wollte sie eben fragen, welches Bild sie von sich habe, als sie fortfuhr.
„Was meint er damit, wenn er sagt: „Ich bin im Augenblick da glücklich, wo ich bin!“ Was heißt im Augenblick? Heißt das, jetzt, in diesem Moment? Und morgen nicht mehr?“

„Das heißt es nicht, Dulcinea. Es heißt das, was er dir sagte. Er ist glücklich. Jetzt. In diesem Augenblick. Er liebt dich. Jetzt. In diesem Augenblick. Was macht dir Angst an der Frage: „Wo bin ich?“ Ist es, dass du fürchtest, dass er dich nicht mehr liebt, dass er die Liebe außerhalb eurer Zweisamkeit suchen könnte?“
„Ja, Geschichtenerzähler, ja, davor fürchte ich mich. Und wenn das geschieht, weiß ich nicht, was ich tue. Ich glaube, ich gehe dann lieber freiwillig. So, wie immer. Um zu überleben.“
„Dulcinea. Das ist doch nicht wirklich dein Name, oder etwa doch?“
„Nein, nicht wirklich. So nennt er mich nach einer Geschichte. „Du bist meine Dulcinea“, sagt er. „Du bist für mich die Dame meines Herzens. Die Dame, der ich meine Siege zu Füßen lege, die Dame, die meine Wunden versorgt, wenn ich nicht siegreich war. Dulcinea, Süße meines Lebens.“
„Dann sage mir jetzt noch einmal, Dulcinea, worin seine Frage „Wo bin ich“ den Schrecken für dich hat.“
„Der Schrecken ist in meiner eigenen Angst, Geschichtenerzähler. In der Angst, nur in meiner Angst, verlassen zu werden, nicht zu genügen. Seine Liebe nicht mehr zu spüren. Aber wenn ich ihn aus dieser Angst heraus verlasse, dann mache ich doch genau das, was ich am meisten fürchte? Es ist doch meine Angst, die mich in die Flucht treibt. Ist dies nicht so?“
„Wieviel Macht willst du dieser Angst noch geben, Dulcinea?“
Keine, Geschichtenerzähler. Keine!“

Die Augen unter den geschwollenen Lidern strahlten mich an. Sie umarmte mich, schürzte den Rock, rannte über den Dorfplatz, als hätte sie es eilig, zu ihrem Liebsten zu kommen. Angst oder Liebe. Heute Nacht wählte sie die Liebe.

Die Frage jedoch nach ihrem eigenen „wo bin ich“ hatte sie sich nicht beantwortet. Für diese Nacht genügte es ihr, die Angst zu besiegen. Ein Aufschub, solange bis der nächste Augenblick eintritt, der ihre selbst erschaffene Rolle wieder in Frage stellen würde—und sei es durch eine einfache Frage wie zum Beispiel: „Liebst du dich?“