asserfälle

Irgendwie ist es mir danach, euch eine Geschichte über die Liebe zu erzählen. Ja, ja, ich weiß. In einer oder in anderer Form erzähle ich immer über die Liebe. Aber diesmal meine ich eine Geschichte über zwei Menschen, die sich in einander verliebt hatten. Zwei, die Liebe fanden, und zwei, die sich die Süße des Verliebtseins bewahrten. Jeden Tag. Jede Nacht. Viele Jahre lang, ich glaube sogar, ihr ganzes Leben lang.

Wir saßen unter der Ulme, das Lagerfeuer erhellte und wärmte den Dorfplatz.
„Alter, was schwafelst du? Liebe? Ja, da geb ich dir Recht! Liebe hat Bestand! Aber Verliebtsein? Das hast du doch nur am Anfang einer Liebe! Das Verliebtsein ist wie ein Rausch nach zu viel Wein! Der Rausch und das Verliebtsein, beide gehen vorbei!“
„Ist das so? Ist das wirklich so? Oder ist das nur dein Erlebtes, oder das was du glaubst,“  fragte ich nach.
Er war Anfang seiner Fünfziger, Mann einer Frau, Vater einer Familie. Er schaute mich wissend an.
„Bei mir ist das so, alter Mann. Ich liebe meine Frau aus ganzem Herzen. Ich achte sie. Ich bewundere sie. Sie ist die Mutter meiner sechs Kinder. Ich bin jedoch nicht mehr in sie verliebt! Verliebt sein gibt es nur zu Beginn einer Liebe.“
In seine Augen hinein fuhr ich fort:
„Ich erzähle euch jetzt eine Geschichte, die mir begegnet ist. Über Liebe und über das Verliebtsein.“
Die Dorfbewohner rückten im Halbkreis näher an mich heran. Eine Geschichte über die Liebe ist immer gefragt.

„Ich traf sie, als sie so grau waren, wie ich selbst. Sie fielen mir auf, weil ihre Augen hellwach leuchteten. Es war in irgend einem Dorfe, in dem ich mich mit Wolf für kurze Zeit zum Ausruhen niederließ. Eigentlich fielen sie mir auf, als sie am Feuer saßen und sich bei den Händen hielten, Schulter an Schulter, Wange an Wange, wie gebannt meiner Geschichte „Über die Liebe“ lauschten—ihr kennt die Geschichte von Friedhelm ja schon. Während ich also erzählte, ertappte ich mich dabei, dass ich immer häufiger zu ihnen hin sah. Ich fing an, meine Geschichte jener Nacht für diese beiden Grauen zu erzählen. Ich erinnerte mich an die Episode mit den Fliegen und fügte sie der Friedhelm Saga hinzu.

„Einst saß Friedhelm an einem lauen Sommerabend alleine an einem Holztisch, als ihn zwei Fliegen anfingen zu ärgern. Er hob seine Hand, um dieses lästige Getier zu verscheuchen. Natürlich vergebens. Eine flog auf, die Nächste kam. Sie summten um seine Ohren, seine linke Hand vertrieb sie, während seine rechte versuchte, Fliegen-frei seine Mahlzeit zu verbringen. Auch das vergebens. Sie kitzelten die Hand, dann die Nase, den Fuß, die Beine und wieder die Hand. Sie waren unterschiedlich in der Größe, die eine ungefähr eineinhalbmal so groß wie die andere. Eine zierlich, die Andere fett. Stubenfliegen, keine Schmeißfliegen. Trotzdem lästig.

Es gelang Friedhelm, seine Mahlzeit zu verzehren, ohne dass er dabei eine von ihnen versehentlich verspeiste. Er beobachtete ihr Spiel. Sie kamen einander nie näher als zwei Zoll. Eine lief auf die Andere zu. Bei weniger als zwei Zoll flog entweder die Eine oder die Andere auf. Dann setzte sich die Kleine. Rieb ihre Vorderfüße, rieb ihre Hinterfüße, rieb mit den mittleren Beinen die Flügel.

Friedhelm fragte sich, wie denn die mittleren Beine gerieben würden. Und die Fliege antwortete sofort. Vorderes rechtes Bein, mittleres rechtes Bein. Reiben. „Wieso reibt sie sich eigentlich immer die Beine? Dass sie die Flügel streicht, verstehe ich. Aber weshalb reibt diese Fliege sich die Beine“, wunderte sich Friedhelm.

Die Große tänzelt auf die Kleine zu. Die Kleine ist interessiert. „Hmmm, ein stattlicher Kerl“, dachte sie wohl bei sich und bekam Angst. Sie flog auf. Der stattliche Kerl im Abstand von 10 Zoll ihr nach. Die Kleine duldete die Annäherung; zwei Zoll erreicht, fliegt auf. Abstand halten!
Nach einiger Zeit der Beobachtung formte sein Herz die Frage: „Ist dies nicht so, wie sich die Menschen bei Begegnungen verhalten? Vorsichtig, bitte nicht zu nah?“ Diese Gedanken ließen ihn die Fliegen vergessen, die ihn vergaßen, da er keine Nahrung mehr auf dem Tisch hatte und ihr eigenes Spiel schöner war als das Spiel um Friedhelm.“

Als ich einen Augenblick lang schwieg, fragte mich  ein damals ein Zuhörer:
 “Alter, hat Friedhelm jemals herausgefunden, weshalb sich die Fliegen die Beine reiben?“
Ein Zweiter wollte wissen: „Und hat er sich seine Frage beantwortet? Ich meine die, ob wir Menschen uns auch so verhalten?“
„Ich weiß es nicht“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Der Dorfsprecher hat es mir nicht erzählt. Aber, was meint ihr denn? Wo spielt ihr das Spiel der Fliegen, Dorfbewohner“, fragte ich sie. Doch diese Frage hätte ich nicht stellen sollen.
„Alter, ich glaube, du hast heute zu viel von dem Roten getrunken! Fliegen! Wo haben wir denn etwas gemeinsam mit Fliegen? Wen interessiert schon, wie Fliegen sich die Beine reiben! Oder ob wir uns verhalten, wie die Fliegen! Kannst du etwa fliegen, Alter,“ lachten sie mich aus. „Du hast schon bessere Geschichten erzählt, Alter! Geh schlafen! Kommt, lasst uns das Feuer löschen! Erzähl uns morgen weiter über die Liebe!“

„Genau wie ihr hier im Ulmendorf hörten sie am liebsten Geschichte über die Liebe“, unterbrach ich meine Erzählung, um mir die Kehle anzufeuchten. Doch der Familienvater drängte mich zum Weitererzählen:
„Bislang hast du nur von den Fliegen erzählt. Wo bleibt deine Geschichte über die Liebe und das Verliebtsein, Alter?“

Nach einem weiteren Schluck fuhr ich fort:
„Nun ja, ich hätte es wissen müssen, dass Fliegen niemanden interessieren. Meine Zuhörer zerstreuten sich und ich wollte gerade Wolf zur Nachtruhe auffordern, als ich eine Hand an meiner Schulter spürte. Der junge Graue sprach mich an.
„Alter, ich habe dein Gleichnis der Fliegen wohl verstanden“, nickte er mir zu. „Meine Frau und ich waren wie zwei Fliegen. Wir näherten uns einander sehr vorsichtig. Einer scheuer als der Andere. Sie war Witfrau. Ich war Witwer.  Eine wie der andere war gefangen in Erfahrungen. Wir schufen Bilder, Alter, so wie du mit den Fliegen. Meine Frau und ich können uns gut Bilder ausmalen.
Eines davon ist das Bild der prallvollen Beutel.“
„Prallvolle Beutel? Was meinst du damit“, forderte ich ihn zum Erzählen auf.
Er schwieg, doch Schweigen ist eine Eigenheit von uns Alten, wenn wir in der Vergangenheit weilen und uns den Erinnerungen hingeben. Ich unterbrach sein Schweigen nicht. Ich wusste, nach einem Moment des Besinnens würde er erzählen. So war es dann auch.

„Wir schufen Bilder von Beuteln, die wir mitgebracht haben in unsere Liebe. Jeder hatte seinen eigenen Beutel von Erfahrungen. Immer, wenn wir Streit hatten, fragten wir uns, ob dies ein Stück aus einem der Beutel sei. Und wir packten Stück für Stück die Beutel aus, ich die meinen, sie die ihren. Mit den Jahren gab es immer weniger auszupacken, die Beutel waren flach geworden. Nur manchmal noch begegnet uns ein Stückchen Vergangenheit, das sich in einer Falte des Stoffes versteckt hatte.
Wir malten weitere gemeinsame Bilder auf der Leinwand der Vorstellungskraft. Eines, das uns beiden viel bedeutet, ist das der Wasserfälle, die meine Frau einmal als Kind erleben durfte.
Sie beschrieb sie mir aus der Erinnerung eines Kindes heraus. Ich sah sie vor mir, die grünen Ufer, aus der Höhe stürzte das Wasser wie vom Himmel herab in einen See. Der Wasserfall war einem Vorhang gleich, hinter dem sich eine Höhle öffnete, ein Versteck, das sie durch Zufall beim Schwimmen entdeckte.
Die Wasserfälle, die Wiese, die Höhle, das wurde das Zuhause unserer Liebe. Dorthin wanderten wir in Nächten der Glückseligkeit, dorthin wanderten wir auch, wenn wir getrennt waren voneinander. Und in unseren Träumen trafen wir uns bei den Wasserfällen. Dort werden wir uns auch finden, wenn einmal die Zeit des Abschieds voneinander gekommen ist.“
Er schwieg, seine Augen schauten zärtlich auf seine Frau.
„Ja, alter Mann, ich verstehe dein Gleichnis. Wir sind den Fliegen nicht unähnlich. Und dennoch sind wir anders. Weißt du wirklich nicht, wie Friedhelm diese Frage beantwortet hat? Ach nein, lass es. Es ist nicht wichtig. Ich habe meine Antwort dazu selbst.“
Er drehte seine Frau zu sich, schaute auf sie herunter.
„Lass uns an die Wasserfälle gehen, Liebste“, sagte er und verließ Hand in Hand mit ihr das Feuer“, beendete ich die Geschichte.

„Glaubst du mir jetzt, dass sie sich ihr Verliebtsein bewahrten“, fragte ich den Mann mit den sechs Kindern, der mir mit leicht schräg gelegtem Kopf zugehört hatte.
„Deine  Grauen sind die Ausnahme, Alter. Aber ich gestehe, dass ich beim Hören deiner Geschichte Sehnsucht nach Wasserfällen bekam. Doch ich hätte noch eine ganz andere Frage, Alter. Sag mir, weißt du wirklich nicht, weshalb sich die Fliegen die Beine reiben?“

 Meine Antwort ging im schallenden Gelächter der  Dörfler unter.