Der Seelenbruder

Es war der Philosoph. Aber woher kennt er mich? Kurz schoss mir die Angst in die Kniekehlen. „Keine Gefahr Alter“, sagte mein innerer Hund Angst.

„Du erinnerst dich nicht, Alter. Nun ja, wir sind uns auch nicht von Antlitz zu Antlitz begegnet. Es ist Jahre her. Es war zu einer Zeit, als die letzten Arbeiten am Dom begonnen wurden. Erinnerst du dich jetzt?“
Der Dom—ja—der Zimmermann—Freude und Leid, Geschwister des Lebens, weshalb die Erinnerung heute?
„Ja, ich erinnere mich an den sterbenden Zimmermann, aber nicht an euch, Herr.“
„Ich habe deine Geschichte gehört, die vom Regenbogen. Ich konnte dir damals nicht für deine Weisheit danken. Aber jetzt kann ich es.“
Ich betrachtete ihn mit meinem Herzen, meine Seele erkannte einen Bruder.
„Fremder, der mir nicht fremd dünkt, ein wahrhaft schöner Tag ist heute. Es ist mir eine Ehre mit euch zu reden. Weisheit ist jedoch in euren Worten, denen ich am Wagen gelauscht habe. Bedauert habe ich, nicht mehr von euch gehört zu haben. Und nun steht ihr hier, vor mir. Ihr seid ein wahrhaft weiser Mensch, ich bin nur ein alter Mann, der lange Zeit im Kloster war, der gebettelt hat, bis ich Wolf und den Köhler fand. Ich bin ein Geschichtenerzähler, kein Philosoph.“
„Kommt Alter, kommt, lasst uns in mein Haus gehen. Dort ist es kühler.“

Sein Haus? Er meinte wohl seinen Wagen. Aber nein, er schritt zielstrebig auf eines der noblen Steinhäuser zu, die von den Domherren bewohnt werden. Der Hitze zum Trotz trug er einen leichten, dunkelblauen Umhang. Der Hut, der sein Gesicht vor der Sonne schütze, war von der selben Farbe. Ich muss den Schweiß von meinen Händen waschen. So kann ich doch nicht in ein Steinhaus!
„Herr! Wartet bitte auf mich. Ich möchte mich kurz am Brunnen reinigen. Ich bin gleich zurück!“

Er wartete auf mich, gedankenverloren.
„Gedankenverloren“, welch ein Wort. Es schien tatsächlich so, als hätte er die Gedanken verloren, als wäre er tief in seinem Inneren wandern, als würde sein Körper nur aufrecht gehalten durch die Steinsäule, an die er sich lehnte. Welch eigenartiger Mensch. Schon wieder so ein Wort. „Eigenartig“, ein Mensch also mit seiner eigenen Art. Ja, die hat er, kaum wahrnehmbar, wie ein Schatten der Nacht. Er änderte seine Haltung, als er mich sah.
„Fühlt ihr euch jetzt frischer? Dann lasst uns gehen.“
Ehe ich etwas entgegnen konnte, nahm er seinen zielstrebigen Gang wieder auf, führte mich durch die Irrgänge zwischen den Häusern, ging auf ein Portal zu und klopfte. Erst öffnete sich ein Fensterchen, danach die Tür. Er trat ein mit der Selbstverständlichkeit des Hausherren.

Diese Art erinnerte mich an meinen Vater, nur war dieser nicht von der Freundlichkeit des Fremden den Dienern gegenüber. Mein Vater war eben der Herr, die Herrschaft, herrschend. Was ist nur mit mir los, dass ich die Worte zerpflücke?

„Richtet den Speisesaal. Mein Gast hat sicherlich Hunger und Durst“, sagte er zu seiner Hausdame.
„Was mögt ihr trinken? Darf ich euch einen köstlichen Roten anbieten, zusammen mit einer kleinen Mahlzeit? Zuerst einen Krug mit Wasser?“
„Herr, ich danke euch. Ein Krug Wasser genügt mir. Eine Bitte habe ich jedoch. Redet mich in meiner mir gewohnten Weise mit „Alter“ an. Das „ihr“ und „euch“ gehört zu meiner Vergangenheit, zu meiner Erinnerung.“
„Touchez, Alter. Aber dann hörst du auch auf mit „Herr“. Nenn mich einfach Eure Eminenz.“
Er brach in schallendes Gelächter aus, als er in mein fassungsloses Gesicht sah.
„Es war ein Scherz, Alter. Die Eminenz ist nur ein Titel. Heute bin ich mehr ein Emissär denn eine Eminenz. Nennt mich Paulus, nein, nenn mich Paulus.“
„Ich habe zwei Namen, Paulus, sucht euch einen heraus. Gerard oder Felix. Oder einfach Alter.“
„Es steckt in dir, Felix, ich meine das euch. Eine Gewohnheit, die schwer abzulegen ist. Gewohnheiten haben auch ihre guten Seiten. Sie entlasten deinen Kopf. Sie nehmen ihm Arbeit ab. Stell dir vor, du müsstest jedesmal darüber nachdenken, wie ...“

Er wurde unterbrochen durch das Eintreten der Hausdame.
„Der Speisesaal ist gerichtet, eure Eminenz.“

Eine Falle!

Es ist eine Falle! Nach so vielen Jahren der Freiheit hat mich der Klerus wieder. Welch Narr ich doch war, in ihm einen Bruder zu sehen. Meine Knie gaben nach und ich sank auf einen Stuhl im Speisesaal. Eure Eminenz Paulus—HA! Von wegen nur ein Titel!
„Was ist mit dir, Bruder Felix?“
„Eure Eminenz, wie konntet ihr mich finden? Sorgfältig habe ich die Spuren verwischt. Waren es meine Geschichten, die ich in den Dörfern erzählte?“
„In den Dörfern? Ich sagte dir doch, es war die Geschichte über den Regenbogen, mit der du einem Sterbenden den Weg zurück gezeigt hast. Ich hörte sie und wollte dich später zur Seite nehmen. Aber du warst auf einmal in der Menge verschwunden. Und heute dachte ich, meine Augen gaukeln mir etwas vor. Was ist dir, Felix?“
„Eure Eminenz, vergebt mir.“

Ich fühlte wie der kleine Junge, den der Vater ausschalt, weil ich wieder einmal lieber in den Feldern war als langweilige Aufgaben zu erfüllen. Schuldig und doch nicht schuldig. Schuldig, weil ich etwas getan hatte, was der Vater als falsch ansah; nicht schuldig, weil ich meinem Herzen nachgegeben hatte und mit größtem Vergnügen den Ameisen zuschaute. Ich legte ihnen Hindernisse in den Weg, bot ihnen Brotkrümel an, pflanzte einen Grashalm als Banner in ihren Hügel, ließ sie über meine Hand kitzeln, vergaß die Zeit.

„Was soll ich dir denn vergeben, Felix?“
Hatte ich ihn um Vergebung gebeten? Ich kehrte zurück von den Ameisen in den Speisesaal. Ich blickte auf, sah in die Augen der unendlichen Weisheit, sah kein Strafgericht, sah Verwirrung in seinen Zügen. Ja, eine Falle. Aber nicht die seine. Meine Angst vieler Sommer und Winter, meine Angst vor Städten mit Klöstern und Domen, meine Angst war es, die eine Falle erschuf, die nie gestellt worden war.

„Vergib mir Paulus, dass ich soeben einen Narren erschaffen habe, dass ich für kurze Zeit mein Sein vergaß, vergaß wer ich bin.“
„Es ist sicher der Wechsel von Hitze nach Kälte. Diese Gemäuer hier sind immer feucht und modrig. Greif zu, lass es dir schmecken. Ich möchte im Vorteil sein, wenn ich mit dir debattiere!“
Ich griff nach dem Roten und leerte den Becher in einem Zuge.
„Halt ein“, lachte Paulus. „Es ist kein Wasser  und ich besitze nicht die Gabe unseres Herrn!“
Erneut füllte er den Becher.
„Gestatte mir, dass ich dein Gesicht betrachte, während du dich stärkst. Ich möchte ein Bild malen in meinem Herzen, ich möchte ein klares Bild von dir in meiner Erinnerung.“

Die Stunden vergingen und wir wussten bald nicht mehr, wer ist Geschichtenerzähler, wer ist Philosoph. Wir wurden Freunde. Wir schwiegen, erzählten, fragten, erklärten und—debattierten.

“Natürlich ist es einfach“, rief er einmal aus. „Ja meinst du ernsthaft, der Klerus weiß das nicht? Als Kirchenfürst muss ich schweigen. Weshalb meinst du, dass ich diesen Humbug der Verkleidung auf mich nehme? Weshalb ich in meiner eigenen Stadt den Philosophen spiele, bislang unerkannt, wer weiß wie lange noch?“
Es gab keine Grenzen.
Das heißt, das stimmte nicht ganz. Die Grenze wurde von mehreren Krügen Wein gesetzt und vom Anbruch der Nacht. Wir, Paulus und Felix, wollten beide nicht das Freudenfeuer auf dem Domplatz verpassen. Also legte er wieder seinen nachtblauen Umhang an und zog sich in den Schatten seines Hutes zurück.
„Hier, nimm du diesen hier. Es könnte kühl werden. Ich brauche ihn nicht mehr, behalte ihn ganz einfach.“

Er legte einen wunderbar weichen, aus edler Wolle gesponnenen Umhang über meinen Arm, und wir gingen, mehr oder weniger sicher, zurück in die laue Abendluft.
Das Fest der Sommersonnenwende hatte uns wieder.
Vielleicht erzähle ich euch einmal eine Geschichte über die Debatten dieser Nacht. Vielleicht aber auch nicht. Aber das wäre eine neue Geschichte, nicht diese hier.“

Der Kreis schließt sich