as traurige Prinzesschen

„Geschichtenerzähler, kannst du mir eine Geschichte über die Traurigkeit erzählen?“
Erwartungsvoll schaute mich das kleine Mädchen an. Was hat dieses Kind verloren, dass es nach einer Geschichte über Traurigkeit verlangt?
„Was stimmt dich traurig, kleines Mädchen?“
„Mich stimmt traurig, dass Mama und Papa alles so schnell vergessen!“
„Wie meinst du das?“
„Nun, sie versprechen mir, dass wir im Wald Pilze sammeln gehen. Ich freue mich jeden Abend auf den nächsten Tag, der mich näher an unseren Ausflug bringt. Ich liege im Bett und male mir aus, wie wunderbar Mamas Pilzsuppe schmeckt. Ich sehe uns, Mama, Papa, ich und meine fünf Brüder, wie wir lachend über die Wiesen tanzen, auf dem Weg in den Wald. Wie ich einen Blumenkranz für Mamas Haare binde und ihn ihr umlege. Wie sie mich dann glücklich anschaut und sagt: „Danke, mein Prinzesschen“ und wie wunderschön sie aussieht mit den Sommerblumen im Haar. Ich sehe wieder ihr Lachen und freue mich so darauf!“
Sie schweigt, ihre dunkelblauen Augen werden zu einem türkisfarbenen Meer.
„Prinzesschen, erzähle mir mehr davon.“
„Nun, endlich ist es so weit. Der Tag ist gekommen. Ich kann gar nicht mehr schlafen und bin beim ersten Sonnenstrahl schon aus meinem Bett gesprungen. Der Vater ist schon in Reisekleidung, mein Herz hüpft vor Freude.
„Vater, lieber Vater, ich freu mich ja so sehr!“
„Worüber denn, Prinzesschen?“ fragt er mich.
„Heute gehen wir doch Pilze sammeln, du bist doch schon angezogen dafür?“
„Aber Prinzesschen! Das geht doch nicht. Ich muss doch heute in die Stadt, auf den Markt, unsere Ernte verkaufen. Mama hilft mir dabei. Es ist unmöglich, dass ihr Kinder alleine in den Wald geht. Die Pilze müssen warten. Ein andermal, aber nicht heute!“
„Er hatte es vergessen, Geschichtenerzähler. Einfach vergessen. Verstehst du, warum Erwachsene alles so schnell vergessen? Sie haben es doch versprochen!“

Ein kleines, unglückliches Kinderherz hoffte auf eine Antwort. Ja, es stimmt. Die Erwachsenen vergessen all zu oft, wie lang ein Tag für ein Kind ist, wie langsam die Stunden in Vorfreude vergehen. Und wie weh es ihnen selbst als Kindern tat, wenn die Eltern etwas Wichtigeres zu tun hatten, als ein Versprechen zu erfüllen.
„Komm her, Prinzesschen! Kuschle dich an Wolf und mich!“
Sie schmiegte sich an Wolf und kämmte seinen dichten, seidigen Pelz mit den fünf Fingern ihrer rechten Hand. Die Unterlippe war zusammengezogen, leicht nach vorne geschoben.

„Lass uns über deine Traurigkeit reden. Eine Geschichte über die Traurigkeit hast du mir ja soeben selbst erzählt. Du bist also enttäuscht, weil dein Traum nicht in Erfüllung ging.“
„Nein, weil sie ihr Versprechen gebrochen haben!“
„Warum meinst du, haben sie ihr Versprechen gebrochen?“
„Weil ich ihnen nicht wichtig bin“
„Warum meinst du, dass du Ihnen nicht wichtig bist?“
„Weil sie nie Zeit für mich haben!“
„Warum meinst du, dass sie nie Zeit für dich haben?“
„Weil sie ihre Versprechen immer vergessen!“
„Und warum meinst du, dass sie ihre Versprechen immer vergessen?“
„Na ja, nicht immer. Aber die Pilzsuche haben sie vergessen!“
„Und weil sie die Pilzsuche vergessen haben, meinst du, dass du Ihnen nicht wichtig bist.“
„Ja!“
„Was glaubst du, warum sind Mama und Papa in die Stadt gefahren.“
„Weil sie die Ernte verkaufen wollen.“
„Und warum meinst du, dass sie das wollen?“
„Damit wir Taler für Saatgut und Kleidung haben.“
„Wozu sind Taler für Saatgut und Kleidung nötig?“
„Damit wir etwas zu Essen haben und nicht frieren im Winter.“
„Du sagst, Prinzesschen: damit wir etwas zu Essen haben und nicht frieren. Sie machen es also für euch, für die Familie. Aber wozu?“
Sie schaute mich verwirrt an.
„Das weiß ich nicht.“
„Dein Herz weiß es, Prinzesschen. Sag es mir, bitte.“
Sie drückte sich noch näher an Wolf und murmelte in sein Fell:
„Weil sie uns lieb haben?“
„Ja, Prinzesschen, weil sie euch lieb haben. Deine Eltern nennen dich Prinzesschen. Was meinst du weshalb?“
„Weil sie mich lieb haben!“
“Weil sie dich lieb haben, so ist es. Kannst du mir jetzt noch einmal sagen, weshalb du so traurig bist?“
„Ich bin doch gar nicht mehr traurig! Sie sind doch in die Stadt gefahren, weil sie mich lieb haben und damit ich etwas zu Essen habe und nicht frieren muss! Ich war eigentlich nur zornig, weil mein Wunsch nicht in Erfüllung ging. Aber Vater sagte doch: „Nicht heute, ein andermal!“. Und ich hab geglaubt, er hat mich nicht mehr lieb.“

Sie sprang auf und tanzte aufgeregt um mich herum.
„Kommst du mit mir Geschichtenerzähler? Ich möchte einen Kranz für Wolf binden!“