ls der Wald weinte

Trügerisch schön begann dieser Tag. Wolf und ich hatten die Nacht in einer Scheune geschlafen und wurden vom Schrei des Hahnes in einen jener Sonnenaufgänge entführt, bei denen mir mein Herz weh tut vor Freude. Wir waren wieder auf Wanderschaft. Vom einen Dorfe verabschiedet, das nächste noch nicht gefunden.
Also machten wir uns auf dem Weg. Wir gingen Richtung Wald, der uns Schatten vor sengender Sonne versprach. Wolf konnte einem munteren Bächlein nicht widerstehen und wälzte sich in dem seichten Nass. An Schwimmen war nicht zu denken, da der Sommer in jenem Jahr war wie die Sommer in meinen Kindertagen: heiß und trocken.
Ich schaute Wolf vergnüglich zu, ging einige Schritte Bach aufwärts, um mir etwas Trinkwasser zu holen, packte mein Bündel mit Dörrfleisch aus und begann mit der ersten Mahlzeit des Tages. Gerade biss ich ein Stück des herrlichen Dörrfleisches ab, als Wolf sich entschloss, das Mahl mit mir zu teilen. Er schüttelte sich so kräftig, dass ich nass wurde wie an dem Tag, als ich durch die Fontäne unseres Gartens rannte, um meinem Bruder zu entkommen.
„Wooolf! Bäähhh! Geh weg! Siehst du nicht, was du hier machst? Hier! Jetzt nimm es auch, aber leg dich bitte wo anders hin.“
Wolf legte sich in die Sonne und kaute genüsslich an dem Stück Dörrfleisch, während ich meine Kleidung in die Sonne legte zum Trocknen. Ein leichter Wind kam auf und tat das Seinige. Wolf und meine Kleidung waren recht bald wieder ansehnlich und wir zogen weiter.
Gen Mittag war die Sonne hinter einer graugelblichen Wolkenwand verschwunden. Es sah nach Gewitter aus. Das Windlein war inzwischen ein kräftiger Wind geworden.
„Komm Wolf, lass uns etwas schneller gehen. Ich möchte einen Unterschlupf finden, ehe das Gewitter losbricht.“
Leichter gesagt als gefunden. Inzwischen gingen wir bergaufwärts, der Wald wurde lichter. „Wird auch höchste Zeit“, dachte ich mir.
„Aber wo will ich jetzt lieber sein? Im Wald oder nicht im Wald? Eigentlich ist es mir ziemlich gleichgültig, eigentlich will ich nur Schutz vor dem Gewitter!“
Der Wind wurde noch heftiger, inzwischen zauste er kräftig die Kronen der Bäume und brach hie und da Äste ab. Wir waren nicht die Einzigen auf der Suche nach einem Unterschlupf. Die Hasen verschwanden in ihren Erdlöchern, Eichhörnchen huschten über den Boden und fanden Schutz in ausgehöhlten Baumstämmen, in der Ferne kreuzte eine Wildsau eilig unseren Weg, unser Eindringen war ihr heute nicht wichtig. Es war ruhig, zu ruhig. Die Vögel waren verstummt, keine Biene, keine Hummel um den Weg.
Im festen Vertrauen auf einen Unterschlupf näherte ich mich einem mit Moos bewachsenen Erdhügel.
„Komm schnell Wolf, wir haben ihn! Schau, dort ist ein Spalt!“

Der Erdhügel entpuppte sich als Teil eines größeren Felsens. Die Spalte weitete sich zu einer kleinen Höhle, in der Wolf und ich unseren Unterschlupf fanden.
Was dann geschah, das kann ich nicht mit Worten beschreiben. Das Gewitter brach los, als wolle unser Herrgott die Welt verschlingen. Der Sturm war unbeschreiblich, das Getöse der brechenden Bäume durchdrungen von dem schrillen Schrei eines sterbenden Tieres. Mein Herz zieht sich zusammen in der Erinnerung an den Tag, als der Wald weinte. Ich hörte ihn seufzen, bersten, sich wehren. Ich hörte seinen Kampf gegen den Sturm. Ich hörte, wie er sich fügte, wie er alles, das schwach war, aufgab und dem Sturm als Opfer brachte. Ich hörte die verwirrten Geister der Natur, die ihr Zuhause verloren. Ich öffnete mein Herz und bat, flehte sie an, doch in unserer Höhle Schutz zu suchen.
Und dann, in meiner Verzweiflung, öffnete ich mein Herz noch weiter und baute eine große Lichthöhle über den Wald als Schutz vor völliger Vernichtung. Eine große Ruhe, nein, nicht Ruhe, unendlicher Frieden kehrte in mein Herz ein. So saß ich, mit der Lichthöhle in meinem Herzen, bis ich das erste Zwitschern der Vögel vernahm.
„Ein Jahrhundertereignis“ nannten es die Menschen in den Dörfern. Keiner konnte sich erinnern, jemals solch eine Verwüstung gesehen zu haben. Eigenartig war jedoch, dass das Wäldchen vor der Bergkuppe am wenigsten Schaden genommen hatte.
„Der Berg hat es wohl beschützt“, meinten die Dorfbewohner.
Wolf und ich blieben noch zwei volle Monde in dem Wäldchen vor der Bergkuppe. Wir halfen einerseits den Dorfbewohnern die getöteten Tiere zu begraben, zu denen Wolf uns mit seiner feinen Nase führte. Andererseits gab ich jede Nacht dem Wald mein volles Herz der Liebe. Der Aufruhr in der Natur legte sich mit der Zeit, die Naturgeister fanden ein neues Zuhause, die Seelen der Tiere kehrten zurück ins Eins.“

Still saßen die Dorfbewohner am Feuer. Ich konnte fühlen, wie ich sie in den sterbenden Wald entführt hatte, wie sie das Bersten der Bäume hörten. In ihr Schweigen hinein fuhr ich fort.
„Ich komme gerade von einem Besuch des Wäldchens vor der Bergkuppe zurück. Junge, kecke Bäume, fast wie Kinder, recken sich neugierig der Sonne entgegen. Die anklagenden weißen Baumstümpfe, die einem mahnenden Finger gleich gen Himmel zeigten, sie sind überwachsen mit Efeu, sind ein Heim der Spinnen und Käfer. Vor unserem Schlupfloch haben sich zwei Bäumchen eingepflanzt, eines rechts, eines links der Öffnung. Im rechten Bäumchen konnte ich gar ein schon verlassenes Vogelnest sehen. Die Spuren des Sturms sind noch zu sehen, doch das Leben hält den Wald umarmt.
Wenn euch, meine lieben Zuhörer am Feuer, wenn euch die Geschichte traurig stimmt, versucht, sie durch meine Augen zu sehen. Das Rad des Lebens dreht sich. Was heute oben ist, ist morgen unten, ist morgen oben. Alles ist richtig, wie es ist. Weil es ist“, schloss ich für diesen Abend.  

Ich verabschiedete mich vom Feuer und wandte mich an Wolf: „Komm Wolf, komm, kuschle dich an mich heran. Lass uns von einer Zeit träumen, in der du im großen Strom schwimmen warst und mir einen Fisch geschenkt hast. Weißt du noch, mein Guter?“