ie weiße Taube

Es war ein kalter Wintertag, so kalt, dass die Haare in der Nase zu kleinen Eisnadeln wurden. Wolf und mir war jämmerlich zu Mute; wir zogen in das nächst beste Dorf, um vor der Kälte etwas Schutz zu finden.
Dieses Dorf hatte eine alte, sehr alte Eiche als Wahrzeichen. Der Stamm war so dick, dass ich ihn nicht mit beiden Armen umfangen konnte. Doch auch der Baum konnte uns keinen Schutz bieten.
„Wanderer, gerne würde ich dich unter meinem Laubdach aufnehmen, gerne dich vor sengender Sonne schützen. Doch sieh selbst. Es ist Winter. Meine Äste sind kahl, die Blätter schlafen den Schlaf des Winters, tief zurückgezogen in mich selbst, bis die ersten Frühlingssonnenstrahlen sie langsam wach kitzeln. Du bist besser aufgehoben im Haus der Menschen. Komm zurück im Frühling, sieh, welch zartes Grün meine Blätter haben. Komm zurück im Sommer. Sieh, welch stolzer Baum ich bin. Und komm zurück im Herbst, wenn ich einer leuchtenden Fackel gleiche. Jetzt jedoch im Winter kann ich dir nicht einmal einen Ast für ein Feuer geben. Mein Holz ist zu nass, du hättest keine Freude daran. Geh ins Haus der Menschen. Dort findest du Schutz durch meine Brüder, die jetzt Häuser sind. Geh auf die Tür dort zu. Sie wird sich gleich öffnen.“
Als Wolf und ich wenige Schritte vor der besagten Tür waren, flog diese mit einem höllischen Lärm auf und hing schief in ihren Angeln. Ich hörte lautes Gejammer und sah, wie ein schmächtiger Dorfbewohner versuchte, die Tür zu richten.
„Ach hätte ich doch im Herbst die Angel noch ausgetauscht. Das hab ich nun davon. Ist das aber auch kalt. Hee Alter, greif mit an! Hilf mir, die Tür zu richten. Du kannst auch reinkommen. Der Hund auch. Jetzt steh hier nicht herum wie vom Blitz getroffen. Greif mit an!“
Es war mir ein Leichtes, die Tür zu richten. Ich hätte schwören können, dass ich ein Wispern hörte.
„Willkommen Alter. Du stehst unter dem Schutz meines Bruders.“
Es war wohl die Kälte und die Erschöpfung.

„Was treibt dich in diese Kälte, Fremder? Hast du dich verirrt? Wo ist dein Pferd?“
Ich war kurz versucht, seinen Faden aufzunehmen und so zu tun, als hätte ich ein Pferd, als hätte ich mich verirrt auf dem Weg in ein schönes Zuhause, eine Geschichte zu erfinden von den Wölfen, oder irgend eine. Aber ich bin, was ich bin. Ich bin der Geschichtenerzähler und brauche die Wahrheit nicht zu scheuen.
„Nein, Herr, ich habe mich nicht verirrt. Ich bin ein Wanderer, der von Dorf zu Dorf zieht und Geschichten erzählt. Erst hat der Schnee uns überrascht und dann diese klirrende Kälte. Hab Dank, dass du Wolf und mir die Wärme deines Feuers schenkst.“
„Ein Geschichtenerzähler? Was für Geschichten erzählst du denn? Märchen? Oder von den Drachentötern? Oder von Engeln und Teufeln? Ich   l i e b e   Geschichten!“
„Ich erzähle Geschichten, die ich auf meinen Wanderungen erfahren oder auch selbst erlebt habe. Du kannst dir eine Geschichte wünschen.“
„Dann erzähle mir eine Geschichte über das Glück.“

Eine Geschichte über das Glück. Ja, das Glück—jeder versteht etwas anderes darunter. Für den einen ist Reichtum Glück, für den anderen ein geliebter Mensch, für den dritten ein warmes Mahl. Aber gleichgültig, was jeder darunter versteht. Eines ist gemeinsam. Glücklichsein ist ein gutes Gefühl.
„Ein gutes Gefühl. Ja, das ist es. Jetzt fällt mir auch die Geschichte wieder ein.“

„Was meinst du Alter? Ein gutes Gefühl? Natürlich ist es ein gutes Gefühl, Glück zu haben“
Nicht haben sondern sein dachte ich, sprach es jedoch nicht aus. Ich begann meine Geschichte der weißen Taube:

„Einst war ich unterwegs in einem fernen Land, einem Land, in dem es nicht diese klirrende Kälte gibt. Ein Land, das so reich ist an Natur, an Gütern, die die Mutter Erde bereitstellt, an Städten, hell, freundlich, voll fröhlicher Menschen. Ein schönes Land, ein Paradies. Die Menschen dort lachen und scherzen miteinander, keiner neidet dem Nachbarn seinen Wohlstand, sein Weib, die Kinder, Hab und Gut. Denn jeder Einzelne hat das, was er selbst gerne möchte. Jeder hat auf seine Art das Glück gefunden.“
„Wo, WO ist das, Geschichtenerzähler. Hinreisen in dieses Land will ich. Sag wo“, unterbrach mich mein Zuhörer aufgeregt nach den ersten wenigen Worten.
„Hör zuerst meine Geschichte, dann entscheide, ob du immer noch von hier weg möchtest, um dein Glück außerhalb deines Landes zu finden.“
Ich fuhr fort:
„Es ging mir wie dir Herr! Ich wollte nie mehr weg aus diesem Land des Glücks. Ich traf Menschen, die mich bereitwillig in ihrer Mitte aufnahmen. Die Herzlichkeit und Ehrlichkeit ihrer Gefühle stand (und steht auch heute noch) in ihren Augen zu lesen. Das Ausmaß ihres Glücks war ein Spiegel für mich. Ich erkannte die Armut in meinen Gefühlen. Ich sah, was ich nicht hatte. Ich sah meinen Mangel. Das gefiel mir gar nicht! Ich wollte so sein wie sie.
„Was ist ihr Geheimnis“, fragte ich mich. „Wie kann ein Mensch einfach nur glücklich sein?“
„Sag mir, meine Freundin“, fragte ich eines Tages die Frau meines Freundes, „sag mir, wie macht ihr das, dass ihr so glücklich seid?“
Sie lachte mich an. „Ist dir unser Wappentier aufgefallen? Die weiße Taube? Komm, wir rufen sie jetzt für dich!“
Verwirrt ließ ich mich mit ihr auf einer großen Sommerwiese nieder.
„Wanderer, du hast eine große Empfindungsfähigkeit und Vorstellungskraft. Diese machen wir uns jetzt zu Nutzen.
Stell dir vor, eine weiße Taube landet auf deiner Hand. Sie fragt dich: „Wanderer, was kann ich für dich mitnehmen in das Eins? Welche Erfahrungen hast du nun schon in deinem Leben gemacht? Das Eins ist neugierig und will wissen, was du erlebt hast!“
Du erzählst der Taube von all deinen Seelenqualen, den Zweifeln, den Schmerzen, den Ängsten, deiner Jugend, deinen Gefühlen an sich. Die Taube ist begeistert.
„Wanderer! Das ist ja wundervoll! So viele Gefühle! Da wird das Eins sich aber freuen. Ich danke Dir von ganzem Herzen für diese reichen Gefühle. Gibst du mir sie bitte mit? Du hast doch die Erinnerung daran. Immer wenn du dich schlecht fühlen möchtest, erinnere dich an die schon erlebten schlechten Gefühle. Das reicht doch, oder? Bitte erlebe jetzt andere Gefühle für das Eins, ja?“
Du würdest der Taube die Gefühle ja gerne mitgeben, weißt aber nicht genau wie.
Die Taube erklärt:
„Das ist ganz einfach. Schaue bitte nach rechts oben und frage dich:
„Was muss ich tun, um der Taube meine bislang erlebten Gefühle mitzugeben und neue, schöne, fröhliche Gefühle zu erleben?“ Dann schaust du geradeaus in die Wolken, schaust dem Flug der Taube zu und sagst:
„Gar nichts!“
Wendest den Kopf weiter nach links oben und sagst laut: „Schon passiert, das macht alles die Taube für mich!“
Und das war es dann auch schon. Ist schon passiert.
„So einfach“, fragst du die Taube.
„Ja, so einfach ist es“, antwortet sie dir.
„Rechts oben, Mitte, links oben. Fertig. Und ich habe deine Gefühle und nehme sie mit. Du hast nur noch die Erinnerung daran. Und das Eins hat die Freude über soviel Gefühlsreichtum. Wundervoll, nicht wahr?“
Und die Taube fliegt davon, zurück zum Eins, mit Säcken von Gefühlen. Es ist genau so einfach. Deshalb ist die Taube unser Wappentier. Ich überlasse dich jetzt der Taube, mein Freund Wanderer, und gehe zurück zu den Anderen.“

„Ist es wirklich so einfach“, fragte mich mein Wirt.
„Ja, das ist es. Ihr könnt die Taube auch hier, in eurer Stube erreichen, hier, mitten im eiskalten Winter. Sie kommt, sobald ihr sie ruft.“
Er schaute mich nachdenklich an.
„Alter, ich bin geneigt, dir zu glauben. Ich erkenne keinen Mangel in deinen Augen. Ich sehe die Falten des Lachens eingegraben in dein Gesicht, ich sehe warme, gütige Augen. Nichts von der Niedergeschlagenheit, der gebeugten Haltung, der Armseligkeit vieler Bettler. Du bist doch auch ein Bettler, dennoch fehlt es dir an nichts.“
„Ich bin kein Bettler, Herr. Ich bin der Geschichtenerzähler. Ist euch meine Geschichte Kost und Logis wert?“
Der so Angesprochene nickte heftig mit dem Kopf.
„Dann wünsche ich euch eine schöne Begegnung mit der weißen Taube, Herr! Falls es euch nicht stört, legen Wolf und ich uns jetzt ans Feuer. Gute Nacht, Herr.“
„Gute Nacht, Geschichtenerzähler! Gute Nacht Wolf! Und: Danke, Alter, für die Geschichte!“